Die Galerie der Lügen
der Gott der Christenheit, kann aus dem Staub der Erde Leben hervorbringen. Aber dann kehrt er zum griechischen Mythos zurück.« Sie ließ ihren Finger über die anderen Szenen des Bildes kreisen. »Nach meinem Gefühl hat das › Gehirn ‹ dem Gemälde eine umfassendere Bedeutung zugemessen. Ich habe gestern mal ein bisschen recherchiert. Wusstest du, dass Prometheus auch bei Nietzsche erwähnt wird?«
»Das war doch der mit dem schönen Satz: › Gehst du zum Weibe… ‹ ?«
» › … vergiss die Peitsche nicht. ‹ Von dem freundlichen Herrn rede ich.« Alex fasste in knappen Sätzen zusammen, wie sich Friedrich Wilhelm Nietzsche den Übermenschen vorgestellt hatte, der nicht dem moralischen Herdentrieb des Christentums folgt, sondern seine eigene Moral einzig aus dem Leben auf der Erde gründet. Dieser moderne Prometheus müsse den Darwinisten gefallen, kommentierte sie. Er könne sogar ihre Schöpfung sein, seien sie doch von einer Philosophie beseelt, die Gott als oberste moralische Instanz ausschließt, weil sie glaubt, das alles aus der Natur heraus und auch diese allein aus sich selbst erklärbar sei. Wenn nichts als der Zufall herrscht, dann ist Moral kaum mehr als die Übereinkunft einer Gesellschaft auf bestimmte Umgangsformen, der man sich anschließen mag oder auch nicht.
»Willst du deine Mitmenschen etwa zu einem Moralkodex zwingen? So, wie es die Kirche Jahrhunderte lang getan hat?«
»Nein. Was glaubst du, warum ich mich so gegen das Diktat der Darwinisten sträube, die den Naturalismus als allein selig machende Heilslehre predigen? Es ist meine tiefste Überzeugung, dass jeder Mensch einen freien Willen hat und aus freien Stücken über sein Schicksal entscheiden sollte. Trotzdem teile ich auch die Meinung jener, die sich damals in den Nürnberger Prozessen auf das Naturgesetz berufen haben: In uns wohnt ein Bewusstsein für Recht und Unrecht, das oft sogar auf den Schwächeren Rücksicht nimmt, obwohl das Postulat vom Überleben des Stärkeren eher das Gegenteil erwarten ließe.«
»Und du meinst, dieses… Bewusstsein stammt von Gott?«
»Ich merke schon, dass dir das Wort nicht gefällt. Einigen wir uns doch darauf, dass unser Gewissen wieder eine dieser immateriellen Komponenten ist, die sich mit dem ausschließlichen Wirken des Zufalls erheblich schwerer erklären lassen als mit einem Konstrukteur, der ebenfalls über Gerechtigkeitssinn und Intelligenz verfügt.«
»Meinetwegen. Aber nur als Arbeitshypothese!«
Alex schmunzelte. »Einverstanden.«
»Zurück zu Prometheus. Vermutlich sage ich dir damit nichts Neues, aber das Gemälde von Piero di Cosimo ist ein Cassone, vermutlich der vordere Teil einer Brauttruhe. Neben der in München gestohlenen Tafel des Kastens gibt es noch eine zweite in Straßburg. Darauf kann man sehen, wie Prometheus die unbelebte Figur mit dem Feuer, das er den Göttern stibitzt hat, zum Leben erweckt.«
»Und?«
»Wird damit nicht dem übernatürlichen Schöpfer als Lebengeber die Lizenz entzogen?«
»Nur vordergründig. Das Symbol des Lebens – das Feuer – stammt ja nicht von Prometheus selbst, sondern er stiehlt es den Göttern. Was er nachher mit seiner Tonfigur angestellt hat, vermochte er also nur durch die Kraft des Allerhöchsten. Heinrich Heine sagte einmal: Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen . Er traute der Wissenschaft wohl auch nicht mehr zu als Piero di Cosimo seinem Prometheus. Aber selbst wenn die Forscher eines Tages im Labor den sprichwörtlichen Käfer erschaffen könnten, würde dadurch doch nur bewiesen, dass geballte Intelligenz erforderlich ist, um so etwas zu bewerkstelligen.«
Darwin kaute einige Zeit auf seinem Huhn herum. Aus irgendeinem Grund wirkte er enttäuscht.
Auch Alex genehmigte sich einen weiteren Bissen, ehe sie ihn fragte: »Worüber denkst du nach?«
Er legte den Kopf schräg, als müsse er seine Überlegungen erst hinauswürgen. »Rein logisch gesehen, leuchtet mir dein Argument ein. Aber wie bringt uns das in der Einbruchsserie voran?«
»Ich glaube, das › Gehirn ‹ will uns von den Widersprüchen der darwinistischen Lehre im Allgemeinen zu dem Menschen im Besonderen leiten. Die Evolution des Homo sapiens genießt die größte Aufmerksamkeit, und die Forschung auf diesem Gebiet verschlingt Millionenbeträge. Ist ja auch nicht verwunderlich, weil die Frage, wo wir herkommen, irgendwann jeden beschäftigt. Auch wenn man es nicht zugeben
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