Die Galerie der Lügen
Problemfall für die Darwinisten, denn nach evolutionstheoretischer Deutung müssen diese Variationen unabhängig voneinander entstanden sein. Daraus ergeben sich unangenehme Fragen: Welche Umweltbedingungen könnten solche grundlegenden Änderungen hervorgerufen haben? Wie soll man sich den Übergang von einem zum anderen Code vorstellen? Nach allem, was wir wissen, würde, grob gesagt, eine Änderung der Chemie in den Zellen eines Organismus seinen raschen Tod nach sich ziehen.«
»Ich bin, gelinde ausgedrückt, schockiert.«
»Das ist schön. Manchmal braucht man einen Schock, um die Welt mit anderen Augen zu sehen.«
»Apropos andere Augen.« Darwin holte seine Ledermappe unter dem Tisch hervor, zog einen Stapel Fotos heraus und legte ihn vor Alex auf den Tisch. »Der Prometheus-Mythos von Piero di Cosimo. Vielleicht kennst du das Gemälde ja aus den Medien.«
»Ich habe sogar bereits eine Fortsetzung meiner › Galerie der Lügen ‹ zu dem Bild verfasst.«
»Dann weißt du auch schon von der Kerze, die man am Tatort gefunden hat? «
»Ja. Ist es korrekt, dass sie aus gebranntem Ton besteht?«
Darwin nickte. »Exakt. Was hältst du von der Sache?«
»Gegenfrage: Was meint mein Schüler dazu?«
»Hm. Prometheus hat den Menschen das Feuer gebracht. Vielleicht wollte das › Gehirn ‹ diesen Akt als Sinnbild für den Missbrauch der Technik und die entartete Kultur der Menschheit verstanden wissen, und es ruft uns zu: › K onzentriert euch lieber auf euren Glauben! ‹ «
»Interessante These. Überzeugt mich trotzdem nicht. Denk an die Kerze, den männlichen Phallus sowie das Traumsymbol für das Bedürfnis nach geistiger Erleuchtung, Einsicht und Erkenntnis.«
»Und das Lebenslicht«, fügte Darwin brummig hinzu. Er deutete auf das Foto vom Gemälde. »Du hattest Recht, als du mich warntest, wir sollten uns nicht zu sehr auf das Stehlen des Feuers konzentrieren. ArtCare hat zwar einige Verträge für Bilder, die das Motiv zeigen, ebenso wie den Prometheus, der gerade am Felsen im Kaukasus festgeschmiedet oder dem vom Adler die täglich nachwachsende Leber herausgerissen wird…«
»Bei Piero di Cosimo liegt der Schwerpunkt aber auf einem ganz anderen Aspekt.«
Er nickte. »Eine auffällige Besonderheit, findest du nicht?«
Obwohl Alex das Werk des florentinischen Malers inzwischen hinlänglich kannte, nahm sie die Fotografie in die Hand, um sie gründlich zu betrachten. Unweigerlich musste sie an Cranachs Paradies denken, das ebenfalls in mehrere Szenen aufgeteilt war. Hier verhielt es sich ähnlich, wenn auch in zurückhaltenderer Form.
Am linken Rand des Bildes sieht man Epimetheus – Prometheus’ jüngeren Bruder – aus Ton einen Menschen formen. Weil er nur eine leblose Figur erschuf, steht Christus bei ihm und richtet dieselbe auf. Schon der italienische Dichter Giovanni Boccaccio hatte Prometheus mit dem Schöpfergott der Christenheit auf eine Ebene gestellt. Boccaccio schreibt in seiner Genealogia Deorum, Epimetheus sei wegen seines »äffischen« Unterfangens von Jupiter in einen Affen verwandelt worden; ganz links im Bild sieht man ihn auf einem Baum herumklettern. Das Zentrum des Gemäldes beherrscht der von Prometheus aus Ton modellierte Mensch. Es ist ein Mann. Er steht auf einem Sockel, ist noch von den Gerätschaften des Bildhauers umgeben und hält den angewinkelten rechten Arm deutend gen Himmel. So harrt die irdene Statue ihrer Belebung durch das Feuer. Rechts von ihr sieht man im Vordergrund bereits Minerva, die Göttin des Handwerks, der schönen Künste und der Weisheit, die bei den Griechen Athene hieß. Sie erklärt Prometheus, wie man eine irdene Statue zum Leben erweckt. Dafür müsse er lediglich etwas stehlen. Prometheus ist begeistert. Rechts oben im Bild sieht man ihn mit Minerva gen Himmel fliegen; er hält bereits die Kienfackel in der Hand, die er am göttlichen Feuer entzünden wird.
Der Ober kam mit zwei dampfenden Tellern an den Tisch. Darwin raffte die Fotos zusammen. Er bekam das Thai-Huhn, Alex den gerösteten Kürbis. Nachdem sie wieder ungestört waren, sagte er: »Vielleicht wurde das Bild als Symbol für das Erheben über den lieben Gott ausgewählt, besser gesagt über Zeus, wie er bei den Griechen hieß.«
»Wäre möglich«, murmelte Alex und deutete auf die Gestalt im roten Gewand und blauem Umhang links vorne. »Immerhin hat Piero di Cosimo hier Jesus eingebaut, als wolle er – ganz im Sinne der heiligen Dreifaltigkeit – sagen: Nur unser Herr,
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