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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Abweichungen von der typischen genetischen Entwicklung, die zu uneindeutigen Ausbildungen des Geschlechts führen können.
    Vor einigen Jahren hatte Alex den Roman Middlesex des griechisch-amerikanischen Schriftstellers Jeffrey Eugenides gelesen. Ein Dialog daraus war ihr bis auf diesen Tag haften geblieben: Cal will von Zora wissen – beide sind intersexuell –, warum sie ihre Natur offen gelegt habe, schließlich merke es ihr keiner an. »Ich möchte, dass die Leute es wissen«, antwortet Zora.
    »Und warum?«, fragt Cal. Zoras Antwort hatte Alex tief berührt.
    »Weil wir das sind, was als Nächstes kommt.«
    Nicht nur bei den alten Griechen, auch in anderen Kulturen gab es Vorstellungen von einem »dritten Geschlecht«. Am erstaunlichsten sind in diesem Zusammenhang die sehr seltenen »echten Hermaphroditen«, die sowohl über Eierstöcke wie auch Hoden verfügen. Im strengen Sinne des Wortes ist ein Mensch mit männlichen und weiblichen Keimdrüsen nicht intersexuell – also zwischen den Geschlechtern –, sondern omnisexuell – er ist alles zugleich.
    Vor einigen Jahren war Alex tief in das Thema eingetaucht, hatte alles verfügbare Material gelesen. Es war nicht sehr viel gewesen. Zu dieser Zeit gab es weltweit nur ein wenig mehr als zweihundertachtzig bekannte echte Hermaphroditen. Einige waren Mütter gesunder Babys geworden, und zumindest in einem Fall hatte einer ein Kind gezeugt. Sie seien der nächste Schritt der Evolution, wurde manchmal aus dem Lager der Darwinisten erklärt.
    An dieser durch nichts bewiesenen Behauptung hatte sich damals Alex’ Ablehnung der Abstammungslehre entzündet.
    Das Erbmaterial jedes Lebewesen ist auf Chromosomen festgelegt, die aus Eiweißmolekülen und der DNA bestehen. Beim Menschen sind dies gewöhnlich dreiundzwanzig Chromosomenpaare. Das letzte – die Gonosomen – bestimmt das Geschlecht: ein kleines Y-Chromosom zusammen mit dem sechsmal so großen X ergibt einen Jungen; zweimal X bedeutet Mädchen. Aber manchmal legt die Natur noch ein oder sogar zwei Chromosomen drauf. So ziemlich alle denkbaren »Mosaike« wurden gefunden. Mit 48,XXXY beschreiben die Mediziner zum Beispiel einen Menschen, der je einen kompletten weiblichen und männlichen Gonosomensatz besitzt.
    Einige Evolutionstheoretiker sprechen der Polyploidisierung – der Vervielfachung von Chromosomensätzen – eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuer Arten zu. Auf den ersten Blick ein verlockender Gedanke, lässt sich aus den multiplizierten Erbinformationen sich kreuzender Individuen doch einiges zusammenwürfeln. Im Pflanzenreich gibt es Arten, deren Vervielfachungsgrad bei vierundsechzig Chromosomensätzen oder noch höher liegt. Jede Kulturerdbeere stellt eine Polyploidisierung ihrer im Wald wachsenden Wildform dar. Sie ist eine neue biologische Art, weil sie unter natürlichen Bedingungen fruchtbare Nachkommen hervorbringen kann. Aber selbst wenn es zu einer starken Durchmischung der vervielfachten Chromosomensätze kommt und veränderte Merkmale oder Eigenschaften beobachtet werden können, entstehen doch keine prinzipiell neuen Organe. Die Umgestaltung beschränkt sich auf den Bereich der Mikroevolution.
    Darwinisten leugnen, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution gibt. Sie sagen, derselbe Mechanismus, der einem Finken einen etwas kräftigeren Schnabel wachsen lässt, könne ihn auch in einen Storch verwandeln. Alles sei im Fluss, überall wirke die Evolution. Allein dieser rhetorische Trick hatte Alex manche Niederlage bereitet. Sie wurde beschuldigt, die Evolution zu leugnen, die doch allgegenwärtig zu beobachten sei. In Wirklichkeit hatte sie sogar oft betont: Ja, es gibt eine enorme Variationsbreite innerhalb der Grundtypen, der Gruppe von Individuen also, die direkt oder indirekt durch Kreuzungen miteinander verbunden sind. Aber sie bestritt aufs Entschiedenste, dass durch Mutation und Selektion neue Baupläne, also makroevolutionäre Veränderungen, entstehen können.
    Gelegentlich warf sie den Neodarwinisten vor, sie benutzten die Mutation als Universalwerkzeug, mit dem sich alles zurechtstutzen und -feilen ließ. Beobachtungen in der Natur und Experimente bewiesen genau das Gegenteil. Mutationen sind ein äußerst zerstörerischer Mechanismus. Spontane oder künstlich herbeigeführte Veränderungen im Erbgefüge schädigen in den allermeisten Fällen den Organismus. Auch die überwiegende Zahl intersexueller Menschen, die ihr Anderssein einer

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