Die Galerie der Lügen
»Naturgeschichte« einen echten Hermaphroditen gekannt hatte.
Mit einer dampfenden Tasse Tee hatte sie sich kurz nach der Heimkehr in ihr Arbeitszimmer in den ersten Stock des Stallhauses begeben, wo sie inmitten von Bücherregalen ihre Artikel zu schreiben pflegte. Die wenigsten ihrer Veröffentlichungen waren Angriffe auf die Evolutionstheorie, wenngleich letztere den größten Wirbel verursachten. Oft berichtete sie über Forschungsprojekte oder die erstaunlichen Wunder der Natur. Solche »Brot-und-Butter-Beiträge« erschienen nicht selten sogar in der Tagespresse, weshalb Alex in den englischsprachigen Zeitungsredaktionen diesseits und jenseits des Atlantiks über einige Kontakte verfügte. Jetzt war es an der Zeit herauszufinden, wie tragfähig diese Verbindungen waren.
Zur Vorbereitung der Pressemitteilung trug sie zunächst mit Hilfe des Internets alles Wichtige zusammen, das sie über die zerstörte Skulptur und die gestohlenen Gemälde wissen musste. Ihr Tintenstrahldrucker spuckte farbige Kopien der Kunstwerke aus. Schnell füllte sich ihr Schreibtisch mit Nachschlagewerken, Fachbüchern und anderen Hilfsmitteln, deren Gebrauch ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie schuldete ihrem »brüderlichen Freund« Theo dieselbe Gründlichkeit, die sie sonst in die Recherchen für ihre Artikel und Essays investierte – immerhin verdankte sie ihm die Freiheit. Was sie als Gegenleistung für ihn tun konnte, war für sie im Grunde nichts Neues. Ja, beinahe kam es ihr so vor, als habe sie jahrelang nur für diese Herausforderung ihres Könnens geprobt.
Ein Gefühl, das sie durchaus beängstigend fand.
Fieberhaftes Arbeiten hatte ihr schon oft über die Verdunkelungen der Seele hinweggeholfen, und mit der gleichen Verbissenheit kniete sie sich jetzt in ihre neue Aufgabe. Nebenbei würde sie sich vielleicht rehabilitieren können, aber das erschien ihr im Moment zweitrangig. Die Menschen vergaßen schnell. Bald würde sich niemand mehr an ihren Namen erinnern. Wichtiger war zunächst die Entschlüsselung der Botschaft.
Die Auswahl der vier Kunstwerke hatte für sie mit Zufall so wenig zu tun wie die Entstehung des Lebens.
Davon war Alex fest überzeugt. Sie musste die Nachricht nur decodieren. Nicht allein diesem ominösen Theo schuldete sie dies. Zweifellos würden sich früher oder später auch wieder Longfellow und Shaw bei ihr melden. Alex bedauerte manche Äußerung, zu der sie sich auf der schäumenden Woge ihrer Gefühle hatte hinreißen lassen und die einem fähigen Ermittler zu denken geben musste. Auf ihre Weise schienen die zwei Männer clever zu sein. Ja, sie würden wiederkommen. Ein Schauer überlief Alex’ Rücken, als sie sich an die Berührung Darwin Shaws erinnerte.
War da mehr gewesen als sonst, wenn ihr ein Mensch zu nahe kam?
Sie konnte ihre Empfindungen nach wie vor nicht richtig einordnen. Ja, wollte sie es überhaupt?
Mit fast ruppigen Tastenanschlägen hämmerte sie den Gedanken aus ihrem Kopf. Sie legte im Computer ein neues Textdokument an. Der Titel war schnell gefunden:
DIE GALERIE DER LÜGEN
Nach Aussagen der Polizei waren mindestens zwei Täter in den Louvre eingebrochen. Die Interviews mit Fachleuten, die sie in der Presse gefunden hatte, gingen auch bei den anderen Einbrüchen von mehreren Beteiligten aus. Anders sei die Überwindung der hochmodernen Sicherheitssysteme in den Museen kaum zu erklären. Trotzdem glaubte Alex an einen planenden Verstand hinter der Einbruchsserie. »Wer ist das › Gehirn ‹ ?«, schrieb sie in ihr Dossier.
Der Hermaphrodit hatte ihr die Augen geöffnet. Sie wusste nur nicht, wie sie ihre Erkenntnis der Presse oder einem Darwin Shaw erklären sollte. Hier würde sie vielleicht mit Halbwahrheiten jonglieren müssen.
Fest stand, dass Hermaphroditen tatsächlich existierten. In den meisten Fällen sprach die Medizin jedoch von »Pseudohermaphroditen«, denn selten waren sie so ausgewogen wie jene Figuren von Polyklet oder anderen griechischen Bildhauern. Wenn der Mann das eine Ende auf der Messlatte der Sexualität darstellt und die Frau das andere, dann gibt es dazwischen unzählige Abstufungen, die unter dem Begriff »Intersexualität« zusammengefasst werden. Bei manchen Intersexuellen stimmt das äußere Erscheinungsbild nicht mit der genetischen Grundlage überein. Andere besitzen Genitalien, die nicht klar in eine der Kategorien »weiblich« oder »männlich« einzuordnen sind. Die Fachliteratur kennt mindestens zwanzig
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