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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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genetischen »Fehlschaltung« verdanken, sind ganz oder eingeschränkt unfruchtbar. Einige würden ohne regelmäßige Zufuhr von Cortison oder anderen Medikamenten innerhalb kürzester Zeit sterben.
    Der letzte Schluck Tee verbreitete sein herbes Aroma auf Alex’ Zunge. Sinnend ließ sie sich im Bürostuhl zurücksinken, steckte sich einen Bleistift in den Mund und blickte aus dem Fenster auf das Kopfsteinpflaster der Rochester Mews hinab. Gestern, am Sonntag, hatte ein Regenschauer den Sommer fortgeschwemmt. An diesem Montagmorgen war es herbstlich kühl, doch der Sonnenschein verlieh dem radikalen Umschwung einen freundlichen Anstrich. Ob es tatsächlich möglich wäre, auch in den Köpfen der Menschen einen Paradigmenwechsel herbeizuführen?
    Mit einem Ruck schnellte Alex wieder vor, ließ ihre Finger erneut über die Tastatur fliegen. Sie durchforstete ihre Festplatte nach einer bestimmten Notiz, die sie vor einiger Zeit festgehalten hatte. Es ging um einige erstaunliche wissenschaftliche Erkenntnisse, die sie in ihre Beweisführung einflechten könnte. Nicht dass sie solche Argumente überschätzte: Fakten mochten eine echte wissenschaftliche Theorie widerlegen, aber sie allein würden nicht ausreichen, um ein philosophisches Denkmuster zu verändern, das sich jeder Falsifizierung widersetzte.
    Neuere Forschungen entzaubern eher den Mythos der Mutationen als Motor der Evolution, anstatt ihn zu beleben. Experimente deuten darauf hin, dass es nur ein beschränktes Spektrum an Variationen in der Erbmasse gibt. Der deutsche Genetiker Lönnig hatte in seinen Züchtungsexperimenten an Pflanzen das häufige Wiederkehren gleicher Mutationen beobachtet und daraus die »Regel der rekurrenten Variation« abgeleitet. Es gebe, so vermutet er, nur eine begrenzte Zahl von Erbfaktoren, »bei denen unter schrittweisem bis völligem Funktionsverlust noch ein lebensfähiger, aber in vielen Fällen mehr oder weniger geschädigter Organismus gebildet werden kann«. Beim Menschen sind über fünftausend solcher rekurrent auftretenden erblichen Abweichungen bekannt. Die meisten gehen mit einer Einschränkungen der Lebensqualität einher oder sogar mit Krankheit und Tod.
    Alex konnte daher den Hermaphroditen nicht als nächsten Schritt in der Evolution sehen, und sie vermutete, dass auch das »Gehirn« diesen Irrtum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken wollte.
    Sie selbst hatte bis auf diesen Tag nie den Mut gefunden, das Thema zum Gegenstand einer ihrer Arbeiten zu machen.
    Regelrecht zornig konnte sie werden, wenn sich die Verteidiger von Darwins Lehre in die vierte Dimension flüchteten: die Zeit. Zugegeben, argumentierten sie, Mutationen seien eigentlich schlecht für die Gesundheit, und eine Hand voll positiver Änderungen sei seltener als ein Hauptgewinn in der staatlichen Lotterie. Aber im Laufe von Jahrmillionen könnten sich genug solcher Treffer aufgehäuft haben, um aus einem Einzeller einen Lottokönig zu machen. Leider lebten Wissenschaftler nicht lange genug, um diese schöpferische Kraft experimentell nachzuweisen.
    Alex hielt diese Behauptung für eine Lüge. Mit zehn Fingern tippte sie flink einen Extrakt ihrer Beweisführung ins Textdokument: Nach herrschender Meinung sind etwa einhunderttausend Generationen ausreichend gewesen, um vom primitiven »Vormenschen« zum Homo sapiens zu gelangen. Ebenso viele Generationswechsel können an Bakterien in einem Jahr untersucht werden, um die Makromutationen in der erforderlichen Größenordnung modellhaft nachzuweisen. Nie wurden jedoch derart weitreichende Veränderungen im Erbgefüge entdeckt. Nach wie vor fehlen stichhaltige Beweise für eine grundlegende Änderung der Organisation von Lebewesen oder für die Entstehung qualitativ neuer Gene.
    Ähnlich verhält es sich bei Drosophila, der zum Lieblingstierchen der Mutationsforscher avancierten Fruchtfliege. Buchstäblich Tausende von Generationen und Millionen von Individuen wurden untersucht, aber nahezu alle bekannten Mutationen waren schädlich. In jedem Fall veränderten sie nur Vorhandenes, schufen aber niemals Neues. Fruchtfliegen blieben immer Fruchtfliegen.
    An der Universität London hatte es einen Zellbiologen gegeben, den Alex für seinen Mut zur Aussprache unbequemer Erkenntnisse bewunderte. Nach Ansicht von E. J. Ambrose waren mindestens fünf Gene erforderlich, um in einem biologischen Organismus selbst die einfachste neue Struktur hervorzubringen. Aber nur eine von tausend Mutationen bringe für das

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