Die Galerie der Lügen
verzweifelt.
Abermals verbreitete sich das Läuten der antiquierten Klingel im Haus.
Mit fahrigen Bewegungen zog sie einen Pullover aus dem Schrank, griff sich eine graue Hose aus Kammgarnwolle, kämpfte einen Moment mit dem Bügel, der das Kleidungsstück nicht freigeben wollte, siegte dann aber doch. Im Nu war sie aus den Schlampersachen heraus. Während sie sich in die ansehnlichere Hose einfädelte, hüpfte sie auf einem Bein ins Bad. Bei der Ankunft vor dem Spiegel steckte ihr Kopf noch im schwarzen Kaschmirpulli. Als er den Durchbruch im Halsausschnitt schaffte, schrie sie entsetzt auf.
Es würde Stunden dauern, sich in einen präsentablen Zustand zu versetzen.
In diesem Moment klingelte es zum vierten Mal.
Kapitel 6
»[Wir müssen] scharf unterscheiden zwischen der Evolutionslehre als einer biologischen Theorie und dem populären Evolutionismus,… der unzweifelhaft ein Mythos ist… Wenn der populäre Evolutionismus nicht ein Mythos wäre, sondern (wie er von sich glaubt) die intellektuell fundierte Auswirkung der wissenschaftlichen Lehre auf das Denken der Allgemeinheit, dann hätte er entstehen müssen, nachdem diese Lehre allgemein bekannt geworden war.«
C. S. Lewis
LONDON (ENGLAND),
Montag, 1 . Oktober, 6.12 Uhr
Manchmal werden die Werke eines Bildhauers mit einem Tuch verdeckt, bevor die Öffentlichkeit sie sehen darf. Der Betrachter erahnt die Größe des Kunstwerkes und manche Form, die bereits durch das Gewebe drängt, und fühlt sich nachher dann bestätigt, wenn der Schleier endlich gelüftet wird. Ähnlich erging es Darwin an diesem Montagmorgen.
Der vierte Museumseinbruch hatte wie ein Damoklesschwert über ihm gehangen. Seine Befürchtungen waren im Laufe des verwirrenden Gesprächs mit Alex Daniels nicht gerade zerstreut worden. Für Darwin gab es kaum Zweifel an einer Fortführung der Serie, nur hoffte er, die Diebe würden sich beim nächsten Mal ein Kunstwerk aussuchen, das nicht bei seinem Arbeitgeber versichert war. Bei der Militärpolizei war ihm allerdings beigebracht worden, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Deshalb hatte ihn sein Wecker an diesem Montagmorgen bereits um fünf aus dem Schlaf geschreckt.
Eine Stunde später befand er sich auf den Weg in die Londoner City. Wann immer es die Verkehrsverhältnisse zuließen, verzichtete er auf das Geschuckel in der U-Bahn und fuhr lieber mit seinem TVR Griffith 500 ins Büro. Der Wagen war Darwins heimliche Leidenschaft, ein englischgrüner, zweisitziger Vollblut-Roadster mit beigefarbenen Ledersitzen und einem über dreihundert PS starken Fünf-Liter-Motor unter der Haube. Er hatte »das Geschoss« von einem General a. D. aus zweiter Hand erworben, damals zehn Jahre alt, aber in tadellosem Zustand. Als das V8-Triebwerk seinen jetzigen Besitzer gerade mit trügerisch unschuldigem Blubbern in die Tiefgarage der ArtCare-Zentrale schob, klingelte Darwins Mobiltelefon.
Er blieb an dem automatischen Rollentor stehen und drückte die Abhebetaste seiner Freisprechanlage. »Hallo?«
»Guten Morgen, Mr Shaw, hier ist Reena Baker«, meldete sich die Sekretärin des Firmenchefs. Ihre Stimme klang selbst über die Lautsprecher angenehm warm.
»Hi, Reena. Haben Sie Ihre Pritsche inzwischen unter dem Schreibtisch aufgeklappt? «
»So ungefähr. Im Vorstand herrscht Krisenstimmung. Wann können Sie hier sein? «
»Ich fahre gerade in die Garage.«
»Sehr gut. Der Doktor möchte Sie umgehend sprechen.«
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»In der vergangenen Nacht wurde in der National Gallery eingebrochen. Ein bei uns versichertes Bild ist gestohlen worden.«
»So etwas habe ich befürchtet.«
»Tatsächlich?«
Von hinten ertönte ein ungeduldiges Hupen. Vermutlich ein Kollege, den es auch schon zu nachtschlafender Zeit an den Schreibtisch zog.
»Bin gleich bei Ihnen, Reena.«
»Ich sage dem Chef Bescheid.«
Darwin parkte den Griffith auf dem für ihn reservierten Stellplatz. Mit dem Lift fuhr er von der Tiefgarage aus direkt in den siebten Stock des fast einhundertfünfzig Jahre alten Hauses. ArtCare gehörte nicht zu den Versicherungsgiganten, die sich auf mehrere Bürokomplexe verteilen mussten, weil in der Londoner Innenstadt kein Gebäude höher als St Paul’s Cathedral sein durfte. Die Firma beschäftigte an ihrem Stammsitz nur etwa zweihundert Mitarbeiter. Schon um der Symbolik willen hatte der Mann an der Spitze der Unternehmenshierarchie seine Büroflucht direkt unter dem
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