Die Galerie der Lügen
keiner Weise messbar und somit auch nicht beweisbar. Folglich war sie metaphysisch. Ein philosophischer, sich jeder Überprüfung entziehender Glaubenssatz. Ein Dogma.
Im Allgemeinen sahen es Vertreter der Wissenschaft nicht gern, wenn ihr Streben nach den letzten Wahrheiten unter staatliche Kontrolle gestellt wurde, und strebten daher nach größtmöglicher Unabhängigkeit. Alex sah darin Vorteile, aber auch Gefahren. Die Geschichte kannte genug Beispiele für machtbesessene Priesterschaften, die sich zu alleinigen Verkündern von Wahrheiten erklärt und ganze Völker ins Verderben gerissen hatten. Da machte es für sie keinen Unterschied, ob das Glaubensbekenntnis der Neuzeit Gott außen vor ließ. In der Vorstellung, die Evolution brauche nur einen Schubs, um die Menschheit auf ihre nächsthöhere Stufe zu hieven, sah sie eine gefährliche Irrlehre, die in einer Katastrophe enden konnte.
Offenbar wollte auch das »Gehirn« genau davor warnen.
Denn es kannte die Schwächen eines echten Hermaphroditen.
Es war wie ein Puzzle. Stundenlang hatte Alex an ihrem Schreibtisch gesessen, literweise Tee getrunken, wohl ein Dutzend Telefonanrufe ignoriert und, nur von gelegentlichen Besuchen der Toilette und des Wasserkochers unterbrochen, Daten und Fakten zusammengetragen. Manchmal glaubte sie bereits Zusammenhänge zu erkennen, suchte verbissen nach Kunstwerken, die zu ihren Überlegungen passen könnten. Aber immer wieder verwarf sie ihre Hypothesen, weil sie ihr zu vage erschienen. Das »Gehirn« versteckte sich hinter Mehrdeutigkeiten.
Ob nun der Schlafende Hermaphrodit oder eines der anderen Kunstwerke, sie alle sollten die Stützpfeiler des Darwinismus als Lügen entlarven; so weit glaubte Alex den Drahtzieher hinter den Museumseinbrüchen durchschaut zu haben.
In einem versteckten Winkel ihres Bewusstseins glomm aber noch eine andere Deutung: Sollten die spektakulären Aktionen auf die inneren Widersprüche ihres Drahtziehers aufmerksam machen? Sah er sich als Opfer einer Gesellschaft, deren Verhalten er aufdecken wollte, bis es so entblößt wäre wie die zerstörte Skulptur oder die Figuren in den Gemälden? Alex nannte es »das Schweigen der Schafe«, eine gedankliche Verquickung aus Thomas Harris’ Psychothriller und Albert Einsteins Ausspruch: »Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.«
Warum hatte Theo ausgerechnet dieses Zitat gewählt?
Alex wusste, sie war kein tadelloses Mitglied der Schafherde.
Ihr Blick wanderte am Bildschirm vorbei zum Fenster, hinaus auf die Straße. Plötzlich erstarrte sie. Erschrocken beugte sie sich über den Schreibtisch, um besser hinaussehen zu können. Aus Richtung des Rochester Place näherte sich ein Mann, dessen hoch gewachsene Statur ihr irgendwie bekannt vorkam. Weil es zu regnen begonnen und er offensichtlich keinen Schirm dabei hatte, hielt er sich eine braunlederne Aktentasche über den Kopf.
Erschrocken wich Alex zurück. Hinter ihr rollte der fortgestoßene Bürostuhl über den Marmorboden, bis er gegen ein Sideboard stieß. Der Mann sah zu den Fenstern hinauf. Mit Sicherheit würde er Alex hinter den stark spiegelnden Scheiben nicht sehen, aber sie konnte sein Gesicht erkennen.
Es war Darwin Shaw. Und er wollte zu ihr.
Als sie zum ersten Mal die Klingel hörte, geriet sie in Panik. Was will er hier? Mein Haus ist doch kein Museum. Ihre ersten Gedanken waren völlig irrational. Abgesehen von Sindhamani, ihrer tamilischen Haushaltshilfe, durfte so gut wie niemand ihr Refugium betreten. Sogar mit Susan traf sie sich fast ausschließlich in Café s oder Restaurants – auf neutralem Boden.
Es klingelte erneut.
Sollte sie sich tot stellen? Vogel-Strauß-Politik praktizieren? Darin besaß sie Übung. Die Erinnerung an Shaws Berührung im Frauengefängnis stieg wieder in ihr hoch, an das elektrisierende Gefühl, das sie in Verwirrung gestürzt hatte, obwohl und gerade weil sie normalerweise jede körperliche Nähe zu anderen Menschen mied…
Als habe sie erneut einen Stromstoß bekommen, brach Alex unvermittelt in Betriebsamkeit aus. Sie schoss in Richtung Tür, wäre dabei fast auf dem Zeitungsstapel ausgerutscht, fing sich aber wieder, während sie aus dem Arbeitszimmer stolperte. Auf Socken schlidderte sie durch den kleinen Flur, vorbei an der Wand mit den alten Familienfotos, hinein ins Schlafzimmer, zum Kleiderschrank und riss die Türen auf.
»Ich habe nichts anzuziehen«, jammerte sie
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