Die Galerie der Nachtigallen
Luft.
»Nehmen wir an, er hat es getan, und es hat einen Streit
gegeben - das ist doch bestimmt kein Grund für einen Mord oder
einen Selbstmord? Ihr habt gesagt, Madam, Brampton sei ein ruhiger,
friedfertiger Bursche gewesen. Kein Mann von hitzigem Temperament
oder jähzornigen Neigungen, der eine so furchtbare Tat begehen
und sie dann sofort büßen würde, indem er sich das
Leben nimmt.«
»Wie sonst soll
es gewesen sein?« fragte Sir Richard steif.
»Nun«, sagte Cranston, »ist es möglich,
daß Brampton den Becher Wein als Angebot der Versöhnung
zu seinem Herrn hinaufbrachte?« Er kümmerte sich nicht
um das verächtliche Grinsen auf Vecheys Gesicht. »Ihn
auf den Tisch stellte und wegging?«
»Und?«
fragte Lady Isabella.
»Jemand anders
ging noch während des Banketts die Treppe hinauf und tat das
Gift in den Becher. Oder«, Cranston rieb sich die fetten
Hände; er kam allmählich in Gang, »woher wissen
wir, daß Sir Thomas nicht noch Besuch bekam, nachdem er sich
zurückgezogen hatte? Jemand, der die Treppe hinauf und die
Galerie entlangging, zu Sir' Thomas in das Gemach schlüpfte,
ihn vielleicht in ein Gespräch verwickelte und dabei heimlich
das Gift in den Becher goß?« Er hob die Hand, um dem
Gemurmel Einhalt zu gebieten.
»Ich
theoretisiere nur, wie die Theologen sagen: Ich spekuliere
über die Natur der Dinge.«
»Dann, Sir, seid
Ihr ein Narr.«
Cranston, Athelstan
und alle anderen drehten sich erstaunt um und schauten in die
Halle. In der Tür stand eine alte Dame, ganz in Schwarz
gekleidet wie eine Nonne. Ihr Kopf war von einem schweren Schleier
bedeckt, der wie eine altmodische Haube das zitronensäure
Antlitz einrahmte. Sie kam herein, und ihr silberbeschlagener Stock
klopfte laut auf den Boden des Raumes.
»Ihr seid ein
Narr!«
Cranston erhob
sich.
»Vielleicht bin
ich das, Madam - aber wer seid ihr?«
Sir Richard sprang vor
wie ein Pfeil.
»Lady
Ermengilde, darf ich Euch Sir John Cranston vorstellen, den Coroner
der Stadt?«
Die alte Dame schaute
den Coroner an, und ihre Augen waren wie zwei dunkle
Teiche.
»Ich habe schon
von Euch gehört, Cranston - von Eurer Sauferei und Eurer
Geilheit. Was sucht Ihr im Hause meines Sohnes?«
»Sir John ist
auf Wunsch des Oberrichters Fortescue hier.« Sir Richards
Stimme war sanft, beinahe flehentlich.
»Noch so ein
Halunke!« fauchte die Lady.
»Ich habe
gefragt, Madam, mit wem zu sprechen ich die Ehre habe?«
wiederholte Sir John.
»Mein Name ist
Lady Ermengilde Springall. Ich bin Sir Richards Mutter.« Sie
strich Springall über den Arm. »Mein anderer Sohn liegt
oben und ist tot, und ich komme herunter, um Euch hier solchen
Unfug schwatzen zu hören. Brampton mag ein guter Hausverwalter
gewesen sein, aber er war auch ein Spitzbube und ein Gemeiner. Er
hatte Flausen im Kopf und wollte über seinen Stand
hinaus.
Thomas hat ihn
dafür getadelt, und wieviele seines Schlages konnte Brampton
das nicht ertragen. Sein Herz war voller Bosheit. Der Satan
flüsterte ihm ins Ohr, und er führte die schreckliche Tat
aus.« Die alte Frau setzte ihren Stock lautstark auf den
Boden und stützte sich dann mit beiden Händen darauf.
»Zumindest hat Brampton die Höflichkeit besessen, sich
aufzuhängen und so der Öffentlichkeit die Kosten und dem
Henker bei The Elms die Arbeit zu ersparen !«
Athelstan beobachtete
Cranston. Der Coroner geriet allmählich in eine seiner
gefährlichsten Stimmungen. Er lächelte, doch das
Lächeln reichte nicht über die Lippen hinaus. Sein Blick
war hart und starr, und er beobachtete die alte Lady, wie ein
Schwertkämpfer, der die nächste Parade seines Gegners
erwartet.
»Lady
Ermengilde, Ihr scheint recht gut über das Geschehene Bescheid
zu wissen. Ich bitte Euch, habt Nachsicht mit mir. Könnt Ihr
mehr erklären?«
»Mein Gemach
liegt dicht neben dem meines Sohnes«, antwortete sie bissig.
»Die Treppe da hinten«, sie deutete mit einer
Kopfbewegung die Richtung an, »führt hinauf zu zwei
Gängen, von denen einer nach rechts geht. Am Ende liegt Sir
Thomas’ Zimmer, daneben meines.«
»Und noch
andere?«
Lady Ermengildes Blick
glitt zu ihrer Schwiegertochter. »Lady Isabellas Gemach.
Links liegt ebenfalls eine Galerie, genau wie die erste, mit einem
Unterschied.« Sie hob einen knochigen Zeigefinger.
»Mein Schlafgemach liegt, wie das von Sir Thomas und Lady
Isabella, an der Galerie der Nachtigall.«
»Galerie der
Nachtigall?« wiederholte Athelstan. »Was ist
das?«
Dame Ermengilde
lächelte und kam näher.
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