Die Galerie der Nachtigallen
Ihr Gesicht ähnelte in der
Tat einem sauren Apfel. Athelstan sah jetzt, daß sie gar
nicht schwarz gekleidet war, sondern den dunkelbraunen Habit einer
Nonne trug; ihre Verachtung für den Luxus dieser Welt konnte
allerdings nicht sehr tief sein, denn die Juwelen an ihren Ringen
waren groß wie Vogeleier. Eine weltliche Lady, dachte
Athelstan, dem strengen Gesicht, den sauer zusammengebissenen
Lippen und den arroganten Augen zum Trotz.
»Das ist
bekannt«, sagte sie, und ihre Stimme triefte vor
Herablassung. »Dieses Haus hat einen viereckigen
Grundriß, und an der gegenüberliegenden Ecke des
Vierecks ist die Treppe zum ersten Stock.« Sie deutete auf
die Tür auf der anderen Seite, die halb offenstand. Dahinter
konnte Athelstan eine steile Treppe erkennen. »Dort geht es
hinauf zu Sir Thomas’ Schlafgemach«, sagte sie.
»Oben sind zwei Korridore. Der zur Rechten heißt
>Galerie der Nachtigall<, weil er >singt<, wenn jemand
hindurchgeht.« Offenbar hatte sie den Unglauben in Cranstons
umnebeltem Blick gesehen. »Dieses Haus ist sehr alt«,
fuhr sie fort und schaute hinauf zu den dicken, geschwärzten
Balken. »Erbaut wurde es unter König John.« Sie
verzog spöttisch den Mund. »Eine Zeit ganz wie die
unsere. Ein starker Herrscher war nötig. Jedenfalls benutzte
einer von Johns Söldnerhauptmännern dieses Haus als
Standort; von hier aus kontrollierte er London. Er vertraute
niemandem, nicht einmal seinen eigenen Leuten.« Ihr Blick
richtete sich auf Lady Isabella, die jetzt hinter Athelstan stand.
»Jedenfalls ließ erden Fußboden des Korridors
herausreißen und durch besondere Eibenholzdielen ersetzen.
Niemand kann sich einem der drei Räume an dieser Galerie
nähern, ohne daß der Boden knarrt oder eben
>singt<. Daher der Name.«
»Und inwiefern
ist das wichtig?« fragte Cranston.
»Wichtig ist,
mein werter Coroner«, schnurrte sie, »daß ich den
ganzen Abend in meinem Zimmer war. Ich bin alt, und Bankette
langweilen mich. Oh, ich hörte das Reden und Lachen von unten.
Es hat meinen Schlaf gestört. Zum Glück brauche ich aber
nur sehr wenig.« Sie funkelte Cranston an. »Ihr werdet
selbst noch feststellen, Sir John, daß man im Alter einen
leichten Schlaf hat.«
»Für den
Fall, daß der Tod Euch auf die Schulter klopft«,
versetzte er grob.
»Ganz
recht«, stichelte sie zurück. »Allerdings hat der
Tod, wie Ihr wohl wißt, Sir John, die Neigung, sich als
erstes die Dicken zu holen.«
»Mylady«,
unterbrach Athelstan. »Die Ereignisse des vergangenen Abends
... Ihr habt niemand zu Sir Thomas’ Gemach gehen
hören?«
»Bevor die
Bankettgäste hin und her liefen«, antwortete sie.
»Während des Essens hörte ich die Nachtigall einmal
singen. Ich war überrascht. Als ich meine Tür
öffnete, sah ich Brampton mit einem Becher Wein in der Hand.
Ich hörte, wie er die Tür meines Sohnes öffnete und
dann wieder die Treppe hinunterging. Dann hörte ich nichts
mehr, bis Sir Thomas in sein Schlafgemach ging. Sir Richard folgte
ihm und wünschte ihm eine gute Nacht; dann kam Lady Isabellas
Zofe und fragte, ob er noch einen Wunsch habe. Danach war es still
im Hause, bis heute morgen. Pater Crispin kam herauf; ich
hörte ihn an die Tür klopfen, dann ging er Sir Richard
holen und kam mit ihm zurück.«
Cranston nickte.
»Ich danke Euch, Lady Ermengilde. Ihr habt dem Mosaik ein
Steinchen hinzugefügt. Brampton hat also wirklich den Becher
heraufgebracht.« Er sah Sir Richard an. »So
störend und schmerzlich es sein mag, ich muß doch darauf
bestehen, die Leichen der beiden Männer zu sehen.« Er
verneigte sich vor Lady Isabella. »Euren Gemahl zuerst,
Mylady. Ihr habt doch nichts dagegen?«
Sir Richard
führte sie durch die Halle und die breite, geschwungene Treppe
hinauf. Als Cranston an Lady Ermengilde vorbeiging, rülpste er
ziemlich laut.
Oben an der Treppe
zeigte sich, daß der nach links führende Korridor oder
die Galerie nicht bemerkenswert war. Die Wände waren verputzt
und frisch gekälkt, das Holzwerk schwarz gestrichen. Zwischen
den drei Türen hingen Gemälde an der Wand, die aber jetzt
mit schwarzen Schleiern verhängt waren. Die Türen waren
mächtig, schwer und mit Eisenbändern verstärkt. Die
nach rechts führende Galerie indessen sah anders aus.
Türen und Wände waren ähnlich, aber der
Fußboden bestand hier nicht aus breiten Bohlen, sondern aus
schmalen Streifen eines hellen Holzes. Kaum hatte Sir Richard einen
Fuß darauf gesetzt, da wußte Athelstan, daß die
Galerie ihren Namen zu
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