Die Galerie der Nachtigallen
Tisches
saß. Sein Ellbogen rutschte von der Tischkante, und er kippte
gefährlich vornüber. Athelstan hörte den jungen
Schreiber kichern, und er sah den wortlosen Spott in den
schönen Augen der Lady Isabella.
»Ja,
also«, trompetete Cranston. »Sir Richard, Euer Bericht?
Euer Bruder wurde ermordet.«
»Gestern
abend«, begann Sir Richard, »fand ein Bankett statt.
Wir alle waren zugegen und ebenso Sir John Fortescue, der
Oberrichter. Er ging gegen elf, vor Mitternacht jedenfalls.«
Sir Richard fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und
Athelstan fragte sich, weshalb der Oberrichter gelogen hatte, was
den Zeitpunkt seines Abschieds anging.
»Mein
Bruder«, fuhr Sir Richard fort, »wünschte uns in
der Halle eine gute Nacht und ging hinauf in seinen
Schlafraum.«
»Lady
Isabella«, unterbrach Cranston, »Ihr habt Euer eigenes
Schlafzimmer?«
»Ja.« Die
Lady funkelte ihn frostig an. »Meinem Gemahl war es lieber
so.«
»Selbstverständlich.«
Cranston strahlte. »Sir Richard ...?«
»Ich ging zu
meinem Bruder hinauf, um ihm gute Nacht zu sagen. Er war im
Nachthemd und hatte die Bettvorhänge zurückgezogen. Ich
sah den Weinbecher auf dem Tisch neben dem Bett. Er wünschte
mir angenehme Ruhe. Als ich ging, hörte ich, wie er die
Tür hinter mir verschloß und
verriegelte.«
Athelstan legte seine
Feder aus der Hand. »Warum tat er das?«
Sir Richard
schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Er hat
es immer getan. Er war gern ungestört.«
»Und
dann?«
»Am
nächsten Morgen«, Pater Crispin beugte sich vor,
»wollte ich ihn wecken und ...«
»Nein!«
unterbrach Lady Isabella. »Ich schickte meine Zofe Alicia zu
meinem Mann, sie klopfte an seine Tür, kurz nachdem er sich
zurückgezogen hatte, und erkundigte sich, ob er noch einen
Wunsch habe.« Mit langen, weißen, eleganten Fingern
strich sie das Tischtuch vor sich glatt. »Mein Mann rief, es
sei alles in Ordnung.«
Athelstan warf
Cranston einen Blick zu. Dem Coroner sanken die schweren Lider
über die Augen. Athelstan trat ihm unter dem Tisch heftig ans
Schienbein.
»Ah ja,
natürlich.« Cranston raffte sich auf und rülpste
sanft wie ein Kind. »Pater Crispin, Ihr wolltet etwas
sagen?«
»Zur Prime -ja,
ungefähr da - die Glocken von St. Mary Le Bow läuteten.
Es war ein schöner Morgen, und Sir Thomas hatte gebeten,
früh geweckt zu werden. So ging ich hinauf zu seinem Zimmer
und klopfte. Niemand antwortete. Ich holte Sir Richard. Auch er
versuchte, Sir Thomas zu wecken.« Dem jungen Priester
versagte die Stimme.
»Was
dann?«
»Die Tür
wurde aufgebrochen«, antwortete Sir Richard. »Mein
Bruder lag ausgestreckt auf dem Bett. Wir dachten erst, er
hätte einen Anfall gehabt und holten den Arzt der Familie,
Peter de Troyes. Er untersuchte meinen Bruder und stellte fest,
daß der Mund fleckig und die Lippen schwarz waren. Da roch er
am Becher und erklärte, der sei vergiftet. Möglicherweise
ein Gemisch aus Belladonna und rotem Arsen. Genug, um den ganzen
Haushalt umzubringen.«
»Wer hatte den
Becher dort hingestellt?« fragte Athelstan und knuffte
Cranston von neuem, um ihn wachzuhalten. »Mein Gemahl hatte
gern einen Becher vom besten Bordeaux an seinem Bett, wenn er sich
abends zur Ruhe legte. Brampton brachte ihm immer den Wein
hinauf.«
»So, so,
Brampton brachte ihm also einen Becher Roten.«
Cranston schmatzte mit
den Lippen. »Er muß ein guter Diener gewesen sein, ein
braver Bursche.«
»Sir
John!« zischte Lady Isabella. »Er hat meinen Gemahl
vergiftet!«
»Wie kommt Ihr
darauf?«
»Er hat den
Becher hinaufgebracht.«
»Woher
wißt Ihr das?«
»Er hat es immer
getan.«
»Und warum hat
Brampton sich dann erhängt?«
»Aus Reue
vermutlich. Bei Gott und all seinen Heiligen, wie soll ich das denn
wissen?«
»Sir John
...« Pater Crispin hob die Hand beruhigend gegen Sir Richard,
der ihr beispringen wollte. Der Kaufmann wirkte cholerisch; sein
Gesicht war so rot angelaufen, daß Athelstan schon einen
Anfall befürchtete. »Lady Isabella ist
betrübt«, fuhr der Priester fort. »Brampton hat
den Becher hinaufgebracht; dessen sind wir
sicher.«
»War er gestern
abend beim Bankett?« fragte Athelstan. »Nein.«
Sir Richard schüttelte den Kopf. »Er und mein Bruder
hatten am Tage einen heftigen Streit gehabt.«
»Weshalb?«
Sir Richard blickte
nervös über den Tisch hinweg zu Vechey und
Allingham.
»Sir Thomas war
wütend gewesen; er hatte Brampton beschuldigt, in seinen
Dokumenten und Aufzeichnungen
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