Die Galerie der Nachtigallen
...?«
»Ein
Geheimversteck?« Sir Richard vollendete den Satz. »Das
bezweifle ich. Außerdem haben Master Buckingham und ich die
Bücher durchgesehen. Es ist alles in Ordnung. Mein Bruder war
ein ordentlicher Mann.«
»Dann sind wir
hier fertig, Sir Richard. Ich würde gern Bramptons Leiche
sehen.«
»Bruder
Athelstan ...« Der Kaufmann zog spöttisch die Braue hoch
und deutete auf Cranston, der mit zufriedenem Lächeln auf
seinem Stuhl saß und fest schlief. »Euer Begleiter, der
gute Sir John, scheint mir zu nichts mehr nutze zu sein. Vielleicht
morgen ...?«
»Ja, ja«,
antwortete Athelstan. »Aber vorher muß ich sehen, wo
Brampton sich erhängt hat.«
»Ich werde mich
darum kümmern, Sir Richard«, murmelte
Buckingham.
Sir Richard nickte;
der Schreiber verließ das Zimmer und kam wenige Augenblicke
später mit einer Kerze in einem Metallgehäuse
zurück. Er führte Athelstan aus dem Schlafzimmer, durch
den Korridor und ins zweite Stockwerk hinauf. Hinter ihnen sang die
Nachtigall, als wolle sie sich über Athelstan lustig machen.
Am Ende der zweiten Galerie befand sich eine enge hölzerne
Wendeltreppe.
»Sie führt
zu den Dachkammern«, sagte Buckingham, der ahnte, was der
Bruder dachte.
Sie stiegen hinauf.
Buckingham stieß eine wacklige Holztür auf, und
Athelstan folgte ihm. Die Kammer war direkt unter die Dachtraufe
gebaut. Die Decke war schräg, hoch an einem Ende, niedrig am
anderen. Gleich hinter der Tür stand ein alter Tisch, daneben
ein Schemel. Buckingham hielt die Kerze hoch, und Athelstan
begutachtete den soliden Balken über dem Tisch. Ein Stück
Seil hing daran, zerrissen und ausgefranst. Es schaukelte
gespenstisch in dem Luftzug, der durch ein Loch zwischen den
Dachpfannen hereinwehte. Auf dem Tisch, von einem schmutzigen Laken
bedeckt, lag Bramptons Leiche. Athelstan nahm Buckingham die Kerze
ab und sah sich um. Überall Müll: geborstene Krüge,
zerbrochenes Glas, ein Koffer mit gerissenem Deckel und ein Berg
alter Kleider. Es roch nach Feuchtigkeit und Staub und nach etwas
anderem - nach Verfall und Moder, nach dem Atem des Todes.
Athelstan trat an den Tisch und schlug das schmutzige Laken
zurück. Da lag Brampton, ein kleiner Mann in grobem
Leinenhemd, am Halse offen; seine dürren Beine steckten in
einer dunkelgrünen Kniehose. Er hätte ausgesehen wie ein
Schlafender, wäre die kuriose Kopfhaltung nicht gewesen. Der
Hals war verrenkt und zur Seite gedreht. Die schweren Augenlider
waren halb geöffnet, und auch der Mund stand im Tode offen.
Ein dunkelblauer, beinahe purpurfarbener Streifen umgab den Hals
wie ein Ring. Athelstan sah genauer hin. Das gelbe, faltige Gesicht
trug keine Spuren von Gewalt. Das Ziegenbärtchen war noch
feucht von Speichel, die Einkerbung an der Kehle ziemlich tief, und
hinter dem Ohr, wo der Knoten gesessen hatte, leuchtete ein
großer Bluterguß. Athelstan betrachtete die Hände;
sie waren lang und schmal und manikürt wie die einer Frau.
Gründlich untersuchte er die Fingernägel und entdeckte
Fasern vom Strick darunter. Buckingham hinter ihm murmelte finster,
als hätte er Einwände gegen diese genaue Untersuchung.
Draußen auf der Treppe polterte es, und Cranston kam herein;
die Wirkung des Weines war deutlich. Er ließ sich
schwerfällig auf den Stuhl fallen und wischte sich mit dem
Rand seines Mantels über das verschwitzte Gesicht.
»Alsdann, Mönch!« rief er. »Was haben wir
hier?« »Brampton«, antwortete Athelstan,
»trägt alle Merkmale eines Erhängten, obwohl man
einige Versuche unternommen hat, die Spuren eines solchen Todes zu
beheben. Der Mund ist halb offen, die Zunge geschwollen und
zerbissen, und am Hals findet sich die Spur einer Schlinge. Hinter
dem linken Ohr ist ein Bluterguß, und Brampton hat im
Todeskampf offenbar die Finger in das Seil gekrallt.« Er
wandte sich an Buckingham. »Brampton kam also in der Absicht
her, sich zu erhängen. Wird hier Seil aufbewahrt?«
Buckingham deutete in eine hintere Ecke. »Sehr viel sogar.
Wir brauchen es oft, um Ballen damit zu
verschnüren.«
»Aha, aha.
Brampton nimmt also dieses Seil, klettert auf den Tisch, bindet ein
Ende um den Dachbalken, knotet eine Schlinge, legt sie sich um den
Hals und rückt den Knoten fest hinter das linke Ohr. Dann
macht er in aller Ruhe einen Schritt vom Tisch, und sein Leben
verlöscht wie eine
Kerzenflamme.«
Buckinghams Augen
wurden schmal, und ihn schauderte.
»Ja«,
murmelte er. »So muß es gewesen sein.«
»Gut«,
fuhr Athelstan im
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