Die Galerie der Nachtigallen
Die
einzige logische Schlußfolgerung ist, daß Brampton und
Vechey von derselben Person aufgehängt
wurden.«
Athelstan ergriff mit
Schwung einen Federkiel, nahm den Deckel von seinem Tintenhorn und
tauchte die Feder hinein. Cranston beugte sich herüber, und
Athelstan merkte, daß er die körperliche Nähe
genoß; es war fast wie früher, wenn er mit seinem Bruder
irgendeinen Streich ausbrütete. »Wie es in der Schrift
heißt: Die letzten werden die ersten sein. Fangen wir also
mit Vechey an ...« Er schrieb den Namen nieder.
»Erhängt unter der London Bridge. Dem Anschein nach hat
er sich das Leben genommen, aber in Wahrheit wurde er ermordet. Von
wem und wie?« Athelstan malte ein Fragezeichen und sah
Cranston an.
»Vielleicht
werden wir es bald wissen«, meinte Cranston. »Ich habe
auf dem Weg zu dir eine Botschaft an die Kanzlei des Sheriffs im
Rathaus geschickt und gebeten, zwei Gerichtssekretäre in die
Schänken und Bordelle auf dieser Seite des Flusses zu
entsenden. Vielleicht finden sie etwas heraus. Vechey war ein recht
bekannter Mann, ein Goldschmied. Er dürfte sich entsprechend
gekleidet haben, auch wenn er vielleicht Mantel und Kapuze trug. In
solchen Lokalen pflegt man die Kundschaft zu
kennen.«
»Zweitens
...« Athelstan schrieb weiter. »Da hätten wir
Brampton, den Majordomus bei Sir Thomas Springall, der von eigener
Hand auf dem Speicher des Hauses Springall zu Tode
kam.«
Cranston sah zu, wie
Athelstans Feder über das Papier eilte. »Wir wissen,
daß es Mord und nicht Selbstmord war. Aber wie und von wem
begangen?«
Wieder ein
Fragezeichen.
»Und
schließlich«, schloß Athelstan, »wurde Sir
Thomas Springall in seinem eigenen Schlafgemach durch einen Becher
vergifteten Weines ermordet, den Brampton dort hinstellte. Wir
haben Dame Ermengildes Versicherung, daß niemand in Sir
Thomas’ Zimmer war, nachdem Brampton ihn besucht hatte. Auch
betrat niemand mehr seinen Raum, nachdem er sich zurückgezogen
hatte. Wir wissen, daß Sir Thomas den Giftbecher in seinem
Gemach und nicht auf dem Bankett trank, denn sonst hätte ihn
der Tod öffentlich und in Gesellschaft
ereilt.«
Athelstan schrieb
sorgfältig. Cranston reckte den Hals und sah zu, wie die Worte
in bläulich grüner Tinte Gestalt annahmen.
»So viele
Fragen, Sir John, und so wenige Antworten. Wo fangen wir also
an?«
Cranston stieß
mit einem Wurstfinger auf die zuletzt geschriebenen Worte.
»Dort fangen wir an. Wir haben Springalls Tod noch nicht
restlos untersucht. Da aber liegt der Schlüssel. Wenn wir ihn
finden, wird sich der ganze Rest wie ein Stück Tuch aufribbeln
lassen.«
»Leichter gesagt
als getan, Sir John. Und Ihr hattet erst einen Becher zur
Erfrischung.« »Genug des Übels für einen Tag,
Bruder. Das solltest du wissen.«
Athelstan nahm seinen
Federkiel erneut zur Hand. »Wir haben drei Rätsel.
Erstens: Genesis, Kapitel 3, Vers 1. Zweitens: Apokalypse, Kapitel
6, Vers 8. Und drittens den Schuhmacher ...«
»Der Schuhmacher
sagt mir gar nichts«, antwortete Cranston. »Aber die
Bibelverse ... Anscheinend gefiel es Sir Thomas, seine Kollegen zu
necken; sie dürften jedenfalls neugierig gewesen sein.
Wahrscheinlich trug Vechey die Verse mit sich herum, weil er das
Rätsel lösen wollte. Oh«, setzte der Coroner
grinsend hinzu, »vergib mir, daß ich dir nichts vom Tod
des Pagen Eudo erzählt habe, aber nach meiner Erinnerung war
an dem Fall nichts Verdächtiges - ein Sturz aus dem Fenster
eben.«
Der Bruder zog ein
Gesicht. »Wenn Oberrichter Fortescue jetzt einen Bericht
verlangen wollte, könnten wir ihm viele Fragen und wenige
Lösungen vorlegen, Sir John.«
»Aus diesem
Grund«, erwiderte der Coroner kurzangebunden und erhob sich,
»gehen wir nach Newgate zu Solper.« Er grinste
Athelstan an. »Jeden Morgen bekomme ich vom Rathaus eine
Liste derer, die zum Strang verurteilt sind. Der junge Solper stand
heute auf dieser Liste, und das keinen Tag zu früh. Eine Ratte
aus der Gosse - aber auch einer meiner besten Spitzel. Mal sehen,
ob er leben will ...«
Er ging mit
großen Schritten davon, und Athelstan beeilte sich, sein
Schreibtablett einzupacken, alles in die Ledertasche zu stopfen und
ihm zu folgen. Cranston hatte bereits den Befehl gegeben, ihre
Pferde auf die Cheapside hinauszuführen. Sie ritten über
den Markt. Lärm, Geschrei und die staubige Hitze verhinderten
jedes Gespräch. Cranston sah sich um.
Ja, auch das
würde er in seiner Abhandlung erwähnen, nahm er sich vor.
An jeder Ecke sollten
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