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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Vechey Selbstmord begangen hat, muß er es in den
frühen Morgenstunden, kurz vor Sonnenaufgang, getan haben.
Richtig?«
    Wieder nickte
Athelstan.
    »Aber das ist
unmöglich«, fuhr Cranston mit selbstzufriedenem
Schmunzeln fort. »Siehst du, nach Mitternacht fließt
die Themse schnell und hoch. Das Wasser steigt und überflutet
fast den Bogen. Der Abstand zwischen dem Wasserspiegel und dem
Balken, an dem Vechey sich erhängte, beträgt
höchstens einen Fuß.« Er hielt seine runden Finger
in die Höhe. »Erstens: Sollen wir etwa glauben,
daß ein Mann bis zum Hals durchs Wasser watet, um die
Schlinge zu befestigen, an der er sich dann aufhängt? Oder
daß er sich buchstäblich unter Wasser erhängt? Aber
als Vecheys Leiche gefunden wurde, war er aus irgendeinem Grund
wieder trocken - bis zu den Knien!«
    Athelstan
grinste. »Mirabile
dictu, Sir
John. Natürlich hatte der Fluß Hochwasser. Vechey
hätte hinausschwimmen müssen, um sich aufzuhängen,
und das ist ein Widerspruch in sich. Was also, glaubt Ihr, ist
passiert?«
    »Vechey wurde
betäubt oder bewußtlos geschlagen und dann
aufgehängt, damit man ihn so fände.«
    »Aber warum
solche Umstände?«
    »Das habe ich
mich auch gefragt«, antwortete Cranston. »Bedenke, wir
wissen sehr wenig über den Mann. Vechey wechselte häufig
die Weiber; er liebte weiches, parfümduftendes Fleisch, aber
als achtbarer Bürger ging er weit entfernt von seinem Heim in
der Cheapside auf die Pirsch. Also, denke ich, ging er zu den
Bordellen und Hurenhäusern unten am Fluß. Auf irgendeine
Weise wurde er dort gefangen, vergiftet oder auf den Kopf
geschlagen, und der Besinnungslose wurde hinunter zur London Bridge
getragen. Man legte ihm die Schlinge um den Hals und warf den
Strick über den Balken. Der Mörder war sehr schlau und
das Flußufer menschenleer. Die Brücke ist, wie der Zwerg
uns sagte, sehr beliebt bei Selbstmördern. Der Mörder
beging nur einen Fehler. Er hatte die Gegend wahrscheinlich
begutachtet, als der Wasserpegel weit unterhalb der Pfahlwehren
lag, und dabei vergessen, daß es Flut sein würde, wenn
er wiederkäme, um Vechey aufzuhängen. Damit war jede
geeignete Fläche, auf der ein Selbstmörder hätte
stehen können, von Wasser
bedeckt.«   
    »Trotzdem
führte er seinen Plan aus. Warum?«
    »Weil Vechey
vermutlich schon tot war, erwürgt, bevor er die Brücke
erreichte. Was sollte der Mörder mit der Leiche anfangen? Sie
mit dem Würgemal der Schlinge ins Wasser werfen? Oder sie
durch London karren, nach einem neuen Galgen suchen und so seine
Verhaftung riskieren?« Athelstan lächelte.
»Ausgezeichnet, Sir John.«
    »Und
Brampton?« fragte Sir John.
    »Vielleicht«,
antwortete Athelstan, »erinnert Ihr Euch, vielleicht auch
nicht: Bramptons Leichnam trug Hose und Leinenhemd. Erstens:
Glauben wir wirklich, daß jemand, der sich gerade entkleidet,
plötzlich beschließt, sich zu erhängen, und nun
barfuß auf den Dachboden steigt, um diesen schrecklichen
Entschluß in die Tat umzusetzen? Und selbst wenn er es getan
hätte: der Fußboden in der Dachkammer war voller
Glasscherben und Schmutz. Aber als ich Bramptons Fußsohlen
untersuchte, fanden sich dort weder Schrammen noch Schnitte. Wenn
er ohne Stiefel über diesen Boden gegangen wäre,
hätten welche da sein müssen. Überhaupt war sehr
wenig Staub an seinen Füßen. Bleibt nur eine
Schlußfolgerung: Brampton starb wie Vechey. Er wurde
besinnungslos, wahrscheinlich mit Wein oder Drogen betäubt,
auf den Dachboden geschleppt. Man schlang ihm den Strick um den
Hals. Er wehrte sich noch ein wenig - daher die Fasern unter seinen
Fingernägeln aber er wurde ermordet und dort hängen
gelassen, weil alle anderen glauben sollten, er hätte sich das
Leben
genommen.«       
    Cranston spitzte die
Lippen und lächelte dann. »Höchst logisch,
Bruder.«
    »Ein anderer
Faktor«, fuhr Athelstan fort, »ist der Umstand,
daß Vechey und Brampton sich angeblich eigenhändig
erhängt haben. Nun habe ich die Blutergüsse an ihren
Hälsen untersucht. Es ist schon ein bemerkenswerter Zufall,
daß die beiden Männer, einander einigermaßen
fremd, sich die Schlinge an exakt die gleiche Stelle geknotet haben
und daß Vechey, als er sich erhängte, Bramptons Beispiel
in jeder Einzelheit gefolgt ist. Ich war auf dem Richtplatz und
habe mir drei Gehenkte angesehen. Der Henker sagte, ein jeder habe
sein eigenes Markenzeichen, und die drei Toten, die ich dort
untersuchte, hatten den Knoten alle an der gleichen Stelle.

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