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Die Galerie der Nachtigallen

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Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Prior hat eine gute Wahl
getroffen. Meine Eltern gaben mir die Schuld am Tod meines Bruders.
In Southwark stirbt jeden Tag jemand. Männer und Weiber
betrinken sich, sie geraten in Streit und prügeln in roher
Gewalt aufeinander ein. In irgendeiner Gasse, irgendeiner Gosse
wird ein Mann zerstückelt, weil er Ale gestohlen hat. Eine
Frau schwimmt in einem Wassergraben, aufgeschlitzt vom Hals bis zu
den Lenden. Und dann Ihr, Sir John. Nur für den Fall,
daß ich es vergessen oder mich zurückziehen und hinter
den Mauern meiner Kirche verstecken sollte - für diesen Fall
seid Ihr hier, stets bereit, mich durch die Straßen zu
führen und daran zu erinnern, daß es kein Entrinnen vor
dem Mord gibt, kein Entrinnen davor, die größte
Sünde von allen mit anzusehen: wie der Mensch seinen Bruder
erschlägt.« Cranston leerte seinen Becher und meinte:
»Vielleicht ist dein Pater Prior weiser, als du
glaubst.«
    »Wie meint Ihr
das?«
    »Ich schreibe -
schon seit Jahren - an einer Abhandlung über die
Aufrechterhaltung des königlichen Friedens in London. Das
schrecklichste Verbrechen ist der Mord - der Glaube, man
könnte jemanden töten, fortgehen und sagen: ›Ich
bin nicht verantwortlich.‹ Ich bin kein Theologe, Athelstan,
und kein Gelehrter der Heiligen Schrift, aber das erste Verbrechen,
das nach der Vertreibung aus dem Garten Eden begangen wurde, war
ein Mord: Kain erschlug seinen Bruder Abel und behauptete nachher,
er wisse nichts davon.« Cranston grinste. »Das erste
große Geheimnis - ich meine, der erste Mord. Aber nicht das
ist deinem Bruder geschehen.« Er wandte sich ab und spuckte
aus. »Das war kein Mord. Es waren Jugendträume und
heißes Blut, Köpfe voll dummer Geschichten über
Troja und die Ritter der Tafelrunde. Nein, Mord ist etwas anderes.
Und warum begehen Menschen einen Mord, Athelstan? Aus Gewinnsucht?
Und was wird sie davon abhalten? Der Strick? Die Folter?« Er
hob die Schultern. »Geh nur mal hinunter nach Newgate, wie
wir es nachher tun werden. Das Gefängnis ist voller
Mörder. Die Galgen sind beladen wie Apfelbäume im Herbst,
wenn ihre Äste sich unter faulenden Früchten
biegen.«
    Cranston rückte
näher, und sein Gesicht war ernster als Athelstan es je
gesehen hatte. »Mord, Raub, Brandstiftung- das alles kann
dann verhindert werden, wenn der Übeltäter weiß,
glaubt und im Grunde seines Herzens akzeptiert, daß er
gefangen und bestraft werden wird. Je wachsamer wir sind, desto
weniger Morde, desto weniger Tote wird es geben. Desto weniger
Frauen werden aufgeschlitzt vom Hals bis zu den Lenden, desto
weniger Männern wird die Kehle durchgeschnitten, und niemand
wird in einer Dachkammer aufgehängt oder muß an einem
Balken unter einer Brücke baumeln. Dein Prior weiß,
Athelstan, daß du mit deinem schlechten Gewissen und deinem
tiefen Gefühl für Gerechtigkeit gut geeignet bist
für eine solche Aufgabe.«
    Er lachte unvermittelt
und wandte sich wieder seinem Wein zu.
    »Wenn dein Orden
mehr Männer wie dich hervorbrächte, Athelstan, und
weniger Prediger und Theologen, dann wäre London ein sicherer
Ort. Aus diesem Grunde habe ich dich hierher in diesen stillen
Garten gebracht und nicht in eine Schänke, wo ich mich
besinnungslos trinken würde. Nein, ich will einen Plan
schmieden und einen bösen Mörder fangen. Denjenigen, der
Thomas Springall getötet und die Schuld auf den armen Brampton
abgewälzt hat, weil er seinen Tod wie Selbstmord aussehen
ließ. Und ich glaube, daß derselbe Schurke auch Vechey
hingerichtet und den Leichnam wie ein Stück Aas unter die
London Bridge gehängt hat.«
    Athelstan trank in
gierigen Zügen aus dem Wasserbecher und sah Cranston nicht an.
Er hatte vom Tod seines Bruders gesprochen, und zum ersten Mal
hatte jemand nicht ihm die Schuld gegeben. Er wußte,
daß sich nicht sofort alles ändern würde; aber ein
Saatkorn war ihm in die Seele gepflanzt worden: die
Möglichkeit, daß er zwar eine Sünde begangen hatte,
aber keinen Mord. Dafür würde er Buße tun, und dann
würde sein Herz wieder rein sein. Er stellte seinen Becher
hin.
    »Ihr sagt,
Springall wurde von jemand anderem ermordet, nicht von
Brampton?« fragte er unvermittelt.
    »Ja«,
antwortete Cranston. »Und du sagst es auch. Aber wie
können wir es beweisen? Der lose Faden in diesem verrotteten
Gobelin ist Vechey. Du erinnerst dich vielleicht: Als wir seinen
Leichnam untersuchten, waren seine Beine naß bis über
die Knie, nicht wahr?«
    »Ja.«
Athelstan rückte.
    »Wir wissen
auch: Wenn

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