Die Galerie der Nachtigallen
Mann hatte ein von Läusen
zerstochenes Gesicht, schmutzigblondes Haar und karmesinrot bemalte
Lippen. Die eingefallenen Wangen waren großzügig mit
Rouge bestrichen, was die vorquellenden grauen Augen noch
fischartiger aussehen ließ. Der Ordensbruder starrte den Mann
an und kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich lieber
als Frau zur Welt gekommen wäre. Nur das konnte das kurze,
spitzenbesetzte Wams und die enge rote Hose erklären.
Athelstan lächelte und schwelgte in Rachephantasien. Eines
Tages, dachte er, würde der Kerl vielleicht als Sodomit
entlarvt werden, und dann, das nahm er sich vor, würde er zum
erstenmal in seinem Leben an einer Hinrichtung teilnehmen.
Fitzosbert hatte ihn unterdessen mit einem kurzen Augenzwinkern
abgetan und wandte sich mit kühler Miene Sir John zu, als
wollte er zeigen, daß ihn dessen zur Schau getragene
Autorität nicht einschüchtern
könne.
»Ihr habt
Vollmachten, Sir?«
»Ich brauche
keine Vollmachten!« zischte Cranston. »Ich bin der
Coroner des Königs, und ich wünsche einen Gefangenen zu
sehen.«
»Welchen?«
»Nathaniel
Solper.«
Fitzosbert
lächelte. »Und was habt Ihr mit ihm zu
schaffen?«
»Das geht Euch
nichts an.«
Wieder lächelte
Fitzosbert, aber Athelstan hatte schon mehr Heiterkeit und
menschliche Wärme auf den Silberbeschlägen eines
Sargdeckels gesehen.
»Ihr
müßt es mir schon erklären, Sir John.« Der
Kerl legte zwei weibisch mit Ringen geschmückte Hände vor
sich auf die Tischplatte. »Ich kann niemandem, nicht einmal
dem Regenten selbst, erlauben, durch mein Gefängnis zu
spazieren und Gefangene zu besuchen, vor allem nicht solche wie
Solper. Der Mann ist zum Tode verurteilt.«
»Aber er
hängt noch nicht, und ich wünsche mit ihm zu sprechen,
und zwar sofort!« Cranston beugte sich über den Tisch,
stützte sich mit beiden Händen auf Fitzosberts Hände
und drückte sie hart auf das Holz, bis der Aufseher blaß
wurde und ihm Schweißperlen auf die Stirn traten.
»Nun hört
mal zu, Master Fitzosbert«, fuhr Cranston langsam fort,
»wenn Ihr es wünscht, werde ich jetzt gehen. Dann komme
ich morgen zurück, und zwar mit einer Vollmacht des Regenten,
ordnungsgemäß von ihm unterzeichnet und besiegelt, und
begleitet von einem Trupp Soldaten aus dem Tower. Und dann werde
ich durch dieses Gefängnis gehen, Solper besuchen und
vielleicht auch ...« Er lächelte. »Jeder von uns
hat Freunde. Vielleicht ließe sich im Unterhaus eine
Bittschrift einreichen. Eine Bittschrift, die eine
Überprüfung Eurer Bücher verlangt. Ich bin sicher,
die Barone des Schatzamtes würde es interessieren, was in
einem Gefängnis des Königs so zu verdienen ist und was
mit dem Euch anvertrauten Geld passiert.«
Fitzosbert
schürzte die Lippen. »Ich bin ja einverstanden«,
murmelte er.
Cranston trat
zurück.
»Und jetzt, Sir:
Solper!«
Der Aufseher stand auf
und trippelte aus dem Zimmer. Athelstan und Cranston folgten ihm;
der Ordensbruder war fasziniert vom tänzelnden Gang des
Mannes. Er wollte eben Cranston in die Rippen stoßen und ihn
zu seinen Überredungskünsten beglückwünschen,
als er ein Geräusch hörte und sich hastig umdrehte. Zwei
große Kerkerknechte mit Körpern wie Affen und Gesichtem
wie grausame Mastiffs tappten stumm hinter ihnen her. jetzt blieb
auch Fitzosbert stehen und drehte sich um.
»Gog und
Magog!« rief er. »Das sind meine Leibwächter, Sir
John, meine Helfer für den Fall, daß ich angegriffen
werde.« Cranstons Hand fuhr zum Schwertgriff; er zog die
mächtige Klinge aus der Scheide und klopfte sich damit auf die
Stiefelspitze.
»Dies ist mein
Bediensteter, Master Fitzosbert. Darf ich Euch daran erinnern,
daß ich ein Beauftragter des Königs bin? Wenn mir etwas
zustößt, so ist das Hochverrat.«
»Selbstverständlich.« Als Fitzosbert
lächelte, sah er noch widerlicher aus als vorher. Sie gingen
weiter, durch ein Labyrinth von gewundenen Gängen voller
Lärm und Gestank, der Athelstan die Kehle zuschnürte. Er
hatte gehört, daß Newgate ein Höllenloch sei, aber
jetzt erlebte er es am eigenen Leibe und verstand, weshalb mancher
Gefangene hier nach kurzer Zeit den Verstand verlor. Es gab viele,
die unaufhörlich redeten oder sangen, während andere,
Frauen zumal, die wußten, daß sie nicht lange hier sein
würden, sich nicht wuschen und wie die Säue im eigenen
Mist lagen. Es ging tiefer ins Gefängnis hinein, vorbei an
einer offenen Kammer, wo die Gliedmaßen Gevierteilter sich
stapelten wie Fleischstücke
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