Die Galerie der Nachtigallen
mieteten sie sich eine Fähre, die sie nach
Westminster bringen sollte. Cranston sprang erstaunlich
leichtfüßig und elegant in das kleine Boot und zog den
überraschten Athelstan hinter sich her; dieser stolperte
über seinen Stock und wäre beinahe kopfüber ins
Wasser gefallen. Der Bootsmann fluchte und befahl ihnen, sich
hinzusetzen und ruhig zu verhalten. Prustend und schwitzend
steuerte er sein Schiffchen in die Mitte des Flusses, vorbei an
Scharen von Schwänen, die erbost mit den Flügeln
schlugen, als gehöre ihnen der Fluß.
Sie folgten der
Themse, die in Biegungen am Savoy-Palast vorbeifloß, an
Durham und dem York House, an hochbordigen Schiffen, die zernarbt
von langen Reisen hier repariert werden sollten. Bei Charing Cross
ruderte der Bootsmann näher ans Ufer, denn die Biegung des
Flusses wurde hier ausgeprägter. Sie passierten Scotland Yard;
die Westminsterabtei kam in Sicht, dann der Turm von St. Margaret
und schließlich die Dächer, Türmchen und Giebel,
die Läden, Häuser und Tavernen der kleinen Stadt
Westminster.
Der Fährmann
legte bei den Garden Stairs an und ließ Athelstan und Cranston aussteigen;
sie wandelten durch Höfe, Torbögen und Korridore, die die
verschiedenen Gebäude des Palastes von Westminster miteinander
verbanden. Hier herrschte reges Treiben; Wärter mit ihren
Häftlingen, Anwälte, Advokaten und Klienten, dazu
Händler, die Papier und Tinte oder Eßwaren feilboten.
Tunichtgute und zahlreiche Schaulustige mischten sich unter die
Armee von Gerichtsschreibern, die Pergamentrollen aus dem als
»Hölle« bekannten Keller heraufschleppten, in dem,
wie Sir John erklärte, die Gerichtsakten aufbewahrt wurden.
Der Geruch war furchtbar, trotz der frischen Brise, die vom
Fluß heraufwehte. Etliche der Anwälte und Richter,
prächtig anzusehen in ihren seidenen Roben, hielten sich
Blütensträußchen vors Gesicht, um den Gestank
abzuwehren. Cranston führte Athelstan in die Große Halle
und machte ihn auf die bemalten Wände aufmerksam - obwohl
einige der Fresken bereits abblätterten. Die berühmte
Decke, wo hölzerne Engel mit abwärtsgewandten Gesichtern
über der Menge durch die staubige Luft zu fliegen schienen,
war so hoch, daß sie im Halbdunkel kaum zu sehen war.
Cranston hielt einen Büttel mit blauem Umhang an, der eine
Amtsbrosche auf der Brust trug und dessen langer Stab auf die
Steinplatten klopfte und von seiner Wichtigkeit kündete. Ja,
versicherte der Mann und deutete auf das Ende der Halle, das
Oberhofgericht tage soeben, und Oberrichter Fortescue sei
dabei.
Die kleinen, harten
Augen blickten milder, als Cranston seine Vollmacht mitsamt einer
darauf liegenden Silbermünze darauf präsentierte. Das
Gericht habe seine Vormittagsverhandlung in der Tat gerade beendet;
vielleicht sei der Oberrichter Fortescue ja auch in seiner
Kammer?
Der Büttel
führte sie durch die düsteren Räume abseits der
Großen Halle, wo der Hauptzivilgerichtshof, das
Kanzleigericht und die Ortsgerichte tagten, und dann durch ein
Labyrinth von weißgekälkten Gängen, bis er vor
einer Tür stehenblieb und laut an klopfte.
»Herein!«
Oberrichter Fortescue
saß an einem Tisch; seine scharlachrote, pelzbesetzte Robe
war über einen Stuhl geworfen. Der verdrossene Ausdruck in
seinem blassen Gesicht ließ ahnen, daß ihm entweder die
Gerichtsverhandlung vom Vormittag oder Cranstons Ankunft die Laune
verdorben hatten.
»Ah!«
Fortescue ließ das Manuskript, in dem er las, auf den Tisch
sinken. »Unser eifriger Coroner und sein Schreiber. Aber
bitte, nehmt doch Platz.« Er wies auf eine gutgepolsterte
Fensterbank.
Cranston warf ihm
einen wütenden Blick zu und watschelte zu der Bank. Athelstan
setzte sich neben den Coroner und fragte sich, was nun kommen
würde. Der Oberrichter sah beide ungnädig an.
»Welche
Fortschritte habt Ihr gemacht?«
Kurz und knapp
berichtete Cranston, was geschehen war und welchen Verdacht sie
hegten. Daß die vier Todesfälle miteinander verbunden
seien. Daß Brampton und Vechey vermutlich nicht Selbstmord
begangen hätten, sondern ermordet worden seien, und daß
Allinghams Tod kein natürlicher sei, sondern der Mörder
wahrscheinlich wieder zugeschlagen habe.
»Und Ihr habt
keine Ahnung, wer es ist?«
»Nein,
Mylord.«
»Oder warum es
geschehen ist?«
»Nein,
Mylord.«
»Ihr habt kein
großes Geheimnis entdeckt, daß Sir Thomas besaß?
Nichts, was die Krone oder die Sicherheit des Reiches
gefährden könnte?«
»Nichts«,
erwiderte Cranston. »Warum sollte
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