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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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plötzlich aufschrak. Die
Schnitzereien! Vor allem die auf der rechten Seite ... Er stand auf
und ging um das Bett herum. Wer immer den Bettpfosten gemacht
hatte, er hatte eine lebendige Szene geschaffen. Die geschnitzte
Schlange schien sich zu winden, und ihre gespaltene Zunge zuckte,
während das auserkorene Opfer, Eva, wie die menschgewordene
Unschuld dastand, mit einer Hand die Scham bedeckend, mit der
anderen das langwallende Haar zurückhaltend. Zwischen beiden
hing der Zweig eines Apfelbaumes. Selbst aus Holz geschnitzt, sah
die Frucht daran dick und saftig aus. Ungläubig starrte
Athelstan einen Augenblick darauf, bevor er zu dem anderen
Bettpfosten ging: Da, in der Mitte, hatte der Künstler ein
Pferd geschnitzt. Das dunkelbraune Holz ließ das Tier
lebendig aussehen; ein Bein war erhoben, der Hals gebogen, und auf
dem Rücken saß eine furchterregende, gespenstische
Gestalt mit einem Kapuzenmantel. Unter der Kapuze lugte der
Knochenschädel des Todes hervor. Athelstan schnappte vor
Aufregung nach Luft und machte sich daran, den Coroner zu
wecken.
    »Sir John! Wacht
auf!«
    Der Coroner regte
sich, schnarchte und schmatzte. »Sir John!« Athelstan
tätschelte ihm sanft das Gesicht. Der Coroner schlug die Augen
auf. »Meine geliebte Maude ...« »Ich bin nicht
Maude!« unterbrach Athelstan scharf. »Sir John, ich
habe etwas entdeckt!«
    »Einen Becher
spanischen Weißen?«
    Athelstan füllte
den Becher und hielt ihn dem Coroner an die Lippen. »Um
Gottes willen, Sir John, so wacht doch auf!«
    Der Coroner setzte
sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich benommen
um. »Bruder, was ist jetzt schon wieder
passiert?«
    Athelstan zeigte ihm,
was er entdeckt hatte. Anfangs starrte Cranston, dessen Kopf noch
vom Wein und Schlaf benebelt war, verständnislos auf die
Bettpfosten, doch allmählich dämmerte ihm, was die
Entdeckung des Ordensbruders zu bedeuten hatte. Er begann, den
holzgeschnitzten Tod zu befingern, zu betasten und zu
drücken.
    »Es muß
ein Geheimfach geben. Ich habe gehört, daß sowas nach
italienischer Mode in Stühle, Tische und Pulte eingebaut wird.
Auch von Verstecken in Betten habe ich schon gehört, aber
gesehen habe ich dergleichen noch nie.«
    Ihre Suche war
fruchtlos, und so nahmen sie sich den anderen Bettpfosten vor. Sie
drückten auf verschiedenen Stellen der Schnitzerei, aber auch
hier rührte sich nichts. Plötzlich hob Cranston den Kopf
und versetzte Athelstan einen Rippenstoß.
    »Sieh doch,
Bruder!«
    Athelstan starrte zu
dem anderen Bettpfosten hinüber. Dort hatte sich der kleine
Holzblock, auf dem die Schnitzerei ruhte, gedreht und wie eine
Tür geöffnet.
    »Der Mechanismus
muß in diesem Bettpfosten sein, und eine Feder läuft
unter dem Holz hindurch zum anderen Pfosten.«
    Und sie beobachteten,
wie die kleine Tür sich wieder schloß, wenn Athelstan
auf den Apfel zwischen Eva und der Schlange drückte. Er
drückte noch mal, und die Tür öffnete sich. Langsam
näherten sie sich dem Hohlraum. Beide hatten Mühe, ihre
Erregung im Zaum zu halten. Athelstan schob die Hand vorsichtig in
das enge, dunkle Fach und zog zwei Pergamentrollen hervor.
Cranstons aufgeregte Bitten, er möge sich beeilen,
ignorierend, trug er sie zum Fenster und entrollte sie behutsam.
Die erste enthielt ein Liebesgedicht, geschrieben von ungelenker
Hand in normannischem Französisch. Zunächst glaubte
Athelstan, es sei an eine Frau gerichtet, aber dann erkannte er,
daß es einem jungen Mann zugedacht war. Er reichte es
Cranston.   
    »Macht Euch nur
einen Reim darauf, wenn Ihr könnt.«
    Das zweite Pergament
war eine Schuldverschreibung. Der obere Rand war perforiert; es
mußte also eine Kopie davon geben. Athelstan las - und
wußte, warum John von Gaunt, der Herzog von Lancaster, so
tief in Sir Thomas Springalls Schuld stand und wieso der Kaufmann
Geheimnisse gehütet hatte, die ihm noch größeren
Reichtum hätten bringen können.
    Cranston hatte das
Gedicht schon beiseite gelegt, aber als er die Schuldverschreibung
las, ließ er sich wie vom Donner gerührt auf das
Fußende des Bettes sinken. Das Pergament baumelte zwischen
seinen Fingern.
    »Das wurde vor
vierzehn Monaten geschrieben«, stellte er leise fest.
»Als der Schwarze Prinz, Vater des jetzigen Königs, im
Sterben lag. Wenn Lord Edward das gewußt hätte, dann
hätte er den Kopf John von Gaunts auf der London Bridge
aufgespießt. Und wenn es jetzt bekannt würde, wäre
ein Aufschrei die Folge.« 
    »Also kennen wir
nun die

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