Die Galerie der Nachtigallen
Gründe für Springalls Tod«, sagte
Athelstan. »Aber wir kennen nicht das Wie und das Wozu, und
vor allem kennen wir den oder die Schuldigen nicht. Sir John, wir
wollen einmal nach der Methode der Schulen zu Oxford vorgehen. Ihr
setzt Euch auf das Bett, und ich setze mich neben Euch. Ihr werdet
alles aufzählen, was Ihr über jeden der vier Morde
wißt, angefangen mit Sir Thomas Springall. Obgleich in
Wahrheit noch ein weiterer Mord passiert ist - fünf also
insgesamt.« Er deutete auf das Pergament mit dem Gedicht.
»Der junge Page, der hier starb, muß ebenfalls als
Opfer gelten.«
Und so begannen sie;
Cranston unterbrach gelegentlich, um sich zu erfrischen, und
zählte alles auf, was sie über Springalls Tod
wußten. Dann ging es weiter mit Brampton, mit Vechey und mit
Allingham. Athelstan korrigierte Cranston und ließ ihn die
Liste der Fakten mehrmals wiederholen, bis der Coroner, der
für seine Geduld ohnehin nicht berühmt war, brüllte:
»Bei allen Zähnen der Hölle! Was willst du, Bruder?
Wir verschwenden unsere Zeit! Wir wiederholen doch immer nur, was
wir sowieso schon wissen.« »Habt Geduld, Sir
John«, bat Athelstan. »Erinnert Euch, wir suchen nach
einem zugrundeliegenden Muster. Wenn man in der Logik einem Problem
gegenübersteht, dann enthalten die Worte des Rätsels
schon die Antwort. Jeder der Morde muß einem Muster
folgen.« Er sah, daß Sir John die Lippen
zusammenpreßte und ihn unter buschigen grauen Augenbrauen
anfunkelte. »Seht, es gibt einen Mord, über den wir sehr
wenig wissen - Vechey. Aber in drei Fällen — bei
Allingham, Brampton und Springall — wissen wir gut Bescheid.
Es muß Gemeinsamkeiten geben, solche, die alle drei
Fälle miteinander verbinden. Eine haben wir bereits: Gift. Ich
habe den Verdacht, daß Vechey und Brampton mit Drogen
betäubt wurden. Sie hätten ja sonst nicht zugelassen,
daß man sie packt, gefangennimmt, ihnen eine Schlinge um den
Hals legt und sie aufhängt. Bestimmte Fäden im Gewebe
passen also zusammen. Wollen doch sehen, ob es nicht noch mehr
gibt.«
Und noch einmal
rezitierte Sir John widerwillig die Fakten, die sie kannten.
Draußen ging der Tag zu Ende. Athelstan, der Sir John nur
noch mit halbem Ohr zuhörte, schaute aus dem Fenster und
fragte sich, was wohl aus Benedicta und Lady Maude geworden sein
mochte. Sollten sie nicht lieber zu den Damen zurückgehen und
sie begleiten? Er störte Sir John mit dieser Frage aus seiner
Konzentration auf; der Coroner machte nur ein finsteres
Gesicht.
»Die Damen
Benedicta und Maude sind durchaus in der Lage, selbst aufsich
achtzugeben«, befand er. »Du hast diese Sache
angefangen, Bruder, und jetzt bleiben wir dabei bis zum bitteren
Ende. Außerdem«, er grinste, »habe ich den jungen
Galan, der neben Benedicta saß, gebeten, sich
freundlicherweise um die beiden Damen zu kümmern, und ich bin
sicher, das wird er auch tun.«
Athelstan knirschte
mit den Zähnen und warf dem Coroner einen vernichtenden Blick
zu, aber Sir John lächelte nur allerliebst zurück, als
wäre er zu keinerlei Ränkespiel fähig. Noch einmal
ließ Athelstan ihn wiederholen, was sie wußten; diesmal
allerdings übersprangen sie den Mord an Sir Thomas Springall.
Er ging zum Fenster und starrte auf das Schachbrett.
Geistesabwesend begann er die Quadrate zu zählen, und
plötzlich schlug sein Herz schneller.
»Es gibt einen
Zusammenhang, Sir John«, sagte er leise.
»Jawohl!« Er drehte sich um, und sein schmales Gesicht
leuchtete vor Erregung. »Es gibt einen Zusammenhang!«
»Du weißt, wer der Mörder ist, stimmt’s?
Los, verdammter Kuttenbruder!« schrie Cranston. »Rede
schon! Ich sitze nicht umsonst hier auf dem Bett und zähle die
Fakten auf wie ein Schuljunge!«
»Sssch, Sir
John. Geduld«, sagte Athelstan. »Laßt mich alles
in die rechte Ordnung bringen. Laßt mich die Reihenfolge der
Ereignisse ergründen, und dann werde ich Euch sagen, was ich
weiß, und das Problem ist gelöst. Einstweilen aber
bleibt hier. Studiert die Schuldverschreibung, denkt nach über
das, was Ihr gesagt habt. Ich bin bald
zurück.«
Bevor der verwirrte
Coroner antworten konnte, war Athelstan zur Tür hinaus,
huschte behutsam durch die Galerie der Nachtigall, die Stiege
hinunter und in die Cheapside hinaus. Um nicht zufällig
jemandem aus dem Hause Springall zu begegnen, lief er die Friday
Street hinunter, bog in die Bread Street ein und ging bei St. Mary
Le Bow vorbei. Die Kirche war offen. Athelstan trat ein, setzte
sich auf einen
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