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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Säulensockel, schlug die Beine
übereinander und schaute durch den Lettner zum Hochaltar
hinauf. Dann ließ er den Blick durch die kühle,
wunderschöne Kirche wandern, über die Fresken an der Wand
des Chorpultes und die aus Eichenholz so wunderbar geschnitzte
Kanzel. Er hörte, wie der Kantor bei den Altarbänken
seinen Chor versammelte, um die Hymnen und Gesänge für
das Fronleichnamsfest zu proben. Athelstan lehnte sich zurück,
legte den Kopf an die kühle Säule und starrte nach oben
in die Dunkelheit. Er versuchte, neu zu ordnen, was er wußte,
das Muster zu vollenden und den Mörder einzukreisen. Dieses
Mal würden die Söhne Kains, die Mörder, sich nicht
umdrehen und in falscher Unschuld fragen: »Sind wir die
Hüter unseres Bruders? Wir sind nicht verantwortlich, denn wir
haben keine Schuld« - während das Blut von fünf
Menschen ihre Hände befleckte und ihre Seelen
verdunkelte.
    Der Chor stimmte das
schöne Kirchenlied »Pange
lingua« an und Athelstan ließ sich in
Geist und Seele beruhigen von dem fließenden Gesang. Die
jüngsten Chorknaben, die den Sopranpart sangen, nahmen jetzt
den Refrain auf, klar und rein, und die Kirche war wie von
Engelsstimmen erfüllt. » Respice , respice, Domine ... Blicke
zurück, O Herr, blicke auf uns zurück!«
    Athelstan murmelte die
Worte vor sich hin. »Blicke auf uns, o Herr«, betete
er. »Schenke mir Weisheit und Erleuchtung. Laß mich die
Finsternis durchdringen, das Böse mit der Wurzel
ausreißen. Laß jene Taten, die in dunkler Nacht
geschahen, offenbar werden für Deine Gerechtigkeit und die des
Königs im Lichte des hellen Tages.«
    Athelstan meditierte
eine Stunde lang. Er sah die Ironie, die darin lag, daß er
hier in einer Kirche saß, im Hause Gottes und dem Tor zum
Himmel, und seine Gedanken sich um Mord drehten. Nach und nach aber
fügte sich das Muster zusammen. Die Schuldigen wurden erkannt
und ihre Beweggründe sichtbar, und widerstrebend bewunderte er
ihre Verschlagenheit und die schiere Bosheit ihres Planes. Er
ersann Fallen und richtete sie ein, und als er bereit war, kehrte
er zum Hause Springall zurück.
    Sir John lag noch
immer auf Sir Thomas’ Bett, einen Becher Roten in der Hand,
und summte ein Schlaflied vor sich hin. Athelstan hätte
schwören können, daß er sich benahm, als wäre
noch jemand im Raum. Als sänge er für jemanden, den er
liebte. Und der Ordensbruder sah, daß dem Coroner das Wasser
in den Augen stand. Er tat, als schaute er aufmerksam aus dem
Fenster, während er seine Schlußfolgerungen
zusammenfaßte. Hinter ihm gewann der Cranston derweil seine
Beherrschung wieder und hörte zu, wie der Ordensbruder
darlegte, wer die Mörder und was ihre Motive waren. Anfangs
wies er allerdings alles zurück, was sein Schreiber da
sagte.
    »Gar zu
gerissen!« schrie er. »Zu schlau! Und zu
diabolisch!« Athelstan drehte sich um. »Diabolisch, ja.
Aber diese Morde wurden in einer menschlichen Seele erdacht und von
einem menschlichen Geist beschlossen, auch wenn sie aus bösen,
ja teuflischen Gründen ausgeführt wurden. Ich glaube, ich
sage die Wahrheit, Sir John.«
    Cranston starrte
mißmutig auf die Fußbodendielen und scharrte mit den
Stiefeln über die blanke Fläche. Plötzlich begann es
draußen in der Galerie der Nachtigall zu knarren und zu
singen. Cranstons Hand zuckte zum Dolch, und Athelstan stürzte zur
Tür. Aber es war nur der alte Diener, der noch betrunkener war
als Cranston. Schwankend lehnte er sich an die
Türpfosten.
    »Ihr seid schon
lange hier, meine Herren. Ihr bleibt? Wartet Ihr auf Sir
Richard?«
    »Nein«,
antwortete Cranston. »Ich hab’s dir doch schon gesagt:
Wir sind hier auf Geheiß des Regenten!« Er hob den
Weinbecher und leerte ihn. »Aber ich danke dir für deine
Gastfreundschaft, mein Bester. Ich werde das nicht
vergessen.«
    »Ach«,
warf Athelstan ein, »ist es wohl möglich, daß ich
mit einer der Wäscherinnen spreche?«
    Der Diener machte ein
überraschtes Gesicht, nickte dann aber und schob wenig
später ein verängstigtes Mädchen zur Tür
herein. Ihre Angst wuchs, als Athelstan ihr seinen Wunsch
schilderte und sie bat, das Mundtuch auf dem schnellsten Wege
herbeizuschaffen. Als das geschehen war, träufelte Athelstan
den Weinrest aus dem Becher darüber, wischte durch eine
staubige Ecke des Zimmers und schob das Tuch dann unter seine
Kutte. Die Magd ging eilig hinaus. Sir John schaute ihn verwundert
an.
    »Was ich gerade
getan habe, ist wichtig, Sir John«, versicherte Athelstan
ihm.

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