Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
bewegte die Lippen, als wäre er unsicher, wie er die schwierigen Worte aussprechen sollte. »Sie müssen nichts tun, was Ihnen … moralisch verwerflich erscheint.«
»Jeremiel, ich würde weder Ihretwegen noch um des gamantischen Volkes Willen zu seiner Geliebten werden. Eher würde ich mir in den Kopf schießen, als für den Rest meines Lebens jeden Morgen mein Gesicht im Spiegel sehen zu müssen.« Aber, flüsterte irgend etwas in den Tiefen ihrer Seele, was ist mit deiner Familie? Mit deinen Freunden, die noch immer im Schatten seiner Brutalität leben? »Vorausgesetzt, ich komme lebend aus dieser Geschichte heraus.«
»Sie werden überleben.«
»Sie sind ein Optimist.«
»Nein, bin ich nicht. Ich habe alle Chancen sorgfältig berechnet.«
»Tatsächlich?«
Er schaute sie an und lächelte. »Na ja, vielleicht nicht alle, aber den größten Teil.«
»So ungefähr hatte ich mir das gedacht. Ich nehme an, Ihre und meine Chancen stellen den unsicheren Teil dar?«
»Sie sind gut im Raten.«
Rachel lächelte schwach. Wie konnten sie hier so herumalbern, wenn sie doch in kaum einer Stunde in der Höhle gefangen sein und dem Drachen Auge in Auge gegenüberstehen würde?
Er wandte sich langsam ab, um zurückzugehen. »Ich treffe Sie in ein paar Tagen. Und machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich werde dort sein.«
»Ja, ich weiß«, murmelte sie und schaute ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand.
Vor ihr schwang der massive Stein gerade weit genug zurück, um ihr Durchlaß zu gewähren. Sie zog den Mantel fester um sich, schritt hinaus in das Mondlicht und eilte die enge, schmutzige Straße entlang. Kalter Wind blies ihr ins Gesicht und trug den Geruch von menschlichem Abfall und das Heulen von Hunden mit sich. Als sie sich umblickte, fragte sie sich, wieso sie so dicht beim Palast herausgekommen war. Gab es in allen Teilen der Stadt unterirdische Ausgänge?
Der mitternächtliche Mond warf kobaltblaue Schatten über die stillen Häuser und glänzte wie flüssiges Silber auf Zinndächern und zerbrochenen Fenstern. Verwundert stellte sie fest, daß man seit der Zerstörung des Tempels nur wenig repariert hatte. Adom hatte nicht einmal die von der Explosion betroffenen Anwohner umgesiedelt. Die mehr oder weniger zerstörten Häuser waren noch immer bewohnt, das erkannte sie am leisen Schnauben der Pferde und den gelegentlichen Schreien von Babys.
Sie preßte sich eng an eine Steinmauer und spähte vorsichtig um die Ecke. In einiger Entfernung erhob sich der Tempel wie eine schwarze, klaffende Wunde vor dem mondbeschienenen Hintergrund der Wüste und der Berge. Zerstörte Mauerreste ragten traurig empor. Nichts war von dem kristallenen Gewölbe des Himmels geblieben als ein glitzerndes Netz diamantener Splitter, die überall auf dem Tempelgelände verstreut waren. Für einen Moment sah sie wieder die blutbespritzten Wände und den roten, von tausend verzweifelt laufenden Füßen aufgewirbelten Staub.
Rachel reckte den Hals, um weiter die Straße hinabschauen zu können, und spürte plötzlich, wie ihre Kehle eng wurde. In der Ferne war der Palast wie eine große, dreieckige Bestie zu sehen, deren Haut im Mondlicht taubengrau schimmerte. Sarahs Beine gaben nach, und sie lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Warum war ihr nicht vorher klar geworden, wie groß ihre Angst sein würde? Daß diese Angst wie ein hungriges Tier an ihr nagen würde? Irgendwie hatten die Wärme und Sicherheit des letzten Monats die Schrecken der davorliegenden Wochen abgeschwächt und überdeckt, doch jetzt erwachte ihr Panik zu neuem, machtvollem Leben.
»Du mußt es tun. Es gibt niemand anderen.«
Sie zwang ihren angstgeschüttelten Körper, die Ecke zu umrunden, und ging in stiller Verzweiflung weiter, die Fäuste derart zusammengeballt, daß sie schmerzten. Das aus den Fenstern der Häuser fallende Licht warf ein unregelmäßiges Muster über den Weg.
Sie behielt den Palast fest im Auge und bemühte sich, wieder gleichmäßig zu atmen. An die hundert Fenster standen offen und boten dem kühlen Wind Einlaß, und in mindestens einem Dutzend davon brannten Lampen, deren Flammen in der Brise flackerten. Sie warf einen Blick zum Himmel, wo der mitternächtliche Mond seine Bahn zog. Weshalb waren um diese Zeit noch so viele Menschen auf?
Rachel runzelte die Stirn, benetzte die Lippen und kämpfte gegen den Gedanken an, die Lichter würden nur für sie brennen. »Sei nicht albern«, flüsterte sie sich selbst zu.
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