Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
fünfhundertzweiundsechzig gekommen.«
Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »So viele?«
»Und dabei konnte ich die Zählung nicht einmal beenden. Der Gegner hat mich daran gehindert.«
»Mit einem Angriff?«
»Mit einer ganzen Angriffswelle.«
»Haben Sie die fünfhundertzweiundsechzig Gründe berücksichtigt und sich höflich von der Party verabschiedet?«
Er lächelte schwach. »Sie wollten mich nicht gehen lassen. Aber ich habe mir immer gewünscht, sie hätten mir die Chance gelassen. Und das ist der Grund, warum ich Ihnen diese Gelegenheit gebe, Rachel.«
»Sie glauben, ich sollte umkehren?«
»Ich glaube, Sie sollten das tun, was Ihr Magen Ihnen rät. Das ist in solchen Zeiten der einzig verläßliche Teil der menschlichen Anatomie.«
»Sie verlassen sich nicht auf Ihren Kopf?«
»Mit Sicherheit nicht.«
»Auch nicht auf Ihr Herz?«
»Nein.«
Sie runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte. »Mein Kopf sagt mir, daß ich verrückt bin.«
»Und Ihr Herz?«
Sie spürte einen Kloß im Hals und schluckte ihn mit Mühe hinunter. »Es schmerzt einfach nur.«
»Das ist der Grund, warum ich nie auf meins höre. Würde ich das tun, könnte ich keine einzige Schlacht schlagen. All das Töten ist verrückt und macht einen selbst krank, daran führt kein Weg vorbei.«
»Warum tun Sie es dann?«
»Oh …« Er holte tief Luft und sagte beim Ausatmen: »Weil ein Kribbeln in meinem Bauch mir sagt, daß ich das Richtige tue.« Er drückte sie fest an sich, und sie spürte die Wärme seines Körpers an ihrem Arm. »Was sagt Ihnen Ihr Bauch?«
Rachel blieb im Schutz seines Armes stehen und versuchte, die in ihrem Kopf und ihrem Herz tobende Panik zu überwinden, um tiefer in sich hinein zu horchen. Sie spürte das gleiche Kribbeln, das er erwähnt hatte, auch in ihrem Magen, aber sie wußte, daß es wenig mit einer Art ’Rechtschaffenheit’ zu tun hatte, sondern vielmehr dem verzweifelten Wunsch entsprang, zurückzuschlagen, Rache zu üben für das, was man ihr angetan hatte. »Er rät mir, schnell zu tun, was getan werden muß«, wisperte sie.
Er nickte verstehend. »Sollen wir umkehren oder in dieser Richtung weitergehen?«
»Umkehren.«
Er tat wie geheißen, drehte sich mit ihr im Arm um und schlug wieder den Weg zu jener Tür ein, die auf die Straßen von Seir führte – und in den Palast des Mashiah.
»Sind Sie bereit?« fragte Rathanial mit einem leisen Zittern in der Stimme, als sie näherkamen, als fürchte er, sie könnte ihm ein von Herzen kommendes »Nein« entgegenschleudern. Sein weißes Haar und der Bart schimmerten silbern im Glühen der Kohlepfanne.
»Ja. Beeilen wir uns bitte.«
Jeremiel legte seine starken Hände auf Rachels Schultern und blickte ihr in die Augen. Sie sah, wie sein Gesicht sich verhärtete. »Passen Sie auf, daß Sie nicht mit den Wachen allein sind.«
Ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie an die Blicke der Soldaten an jenem Tag dachte, an dem Shadrach gestorben war. »Nein, ich … ich …«
»Hören Sie zu«, unterbrach er sie knapp. »Wenn es so aussieht, als wollten die Wachen Sie nicht direkt in den Palast und zum Mashiah bringen, dann schreien Sie sich die Seele aus dem Leib. Sorgen Sie dafür, daß jemand mit Befehlsgewalt Sie hört. Bitten Sie um die Gnade des Mashiah. Verstanden?«
»Ja.«
Er ließ die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. »Denken Sie daran – um Ihre Aufrichtigkeit zu beweisen, müssen Sie alles verleugnen, woran Sie je geglaubt haben.«
»Das dürfte mir nicht schwerfallen, Jeremiel.«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einer Art düsterem Verschwörerlächeln. »Das ist noch nicht alles. Sie müssen sich auch von jedem lossagen, an den Sie je geglaubt haben. Der Mashiah muß überzeugt sein, daß Sie jegliche Verbindung zu den Rebellen aufgegeben haben. Sie haben gewonnen, wenn er in Ihnen nicht mehr sieht als eine hübsche, schutzlose Akolythin, die ihr Ziel verloren hat und dringend seiner Führung bedarf.«
»Ich weiß.«
Aus einem plötzlichen Impuls heraus warf er einen unbehaglichen Blick über die Schulter zu den Mönchen hinüber. Dann spürte sie, wie sein muskulöser Arm sich sanft, aber fest um ihre Taille legte. Er zog sie mit sich in die Dunkelheit. Sein Atem ging schnell.
»Was ist los?« flüsterte sie, als sie seine Anspannung fühlte.
»Rachel, ich möchte, daß Sie wissen, ganz gleich, wie wichtig Ihr Anteil an diesem Unternehmen auch ist … Sie müssen nicht …« Er hielt inne und
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