Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
getränkt hatte, und er mußte seine Füße zwingen, sich vorwärts zu bewegen. Er streckte die Hände aus, drehte sie sanft um und sah, daß sich ihr aufgerissener Brustkorb sanft hob und senkte. Sie lebte!
»Syene«, murmelte er leise. »Halte durch. Ich schaffe dich hier heraus.«
Als er die Arme unter sie schob, um sie hochzuheben, stöhnte sie. Ihre dunklen Augen öffneten sich flatternd, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie ihn erkannte. »Liebe dich«, flüsterte sie kaum hörbar. »Wußte … wußte, du würdest kommen.«
»Spar deine Kräfte, wir …«
»Nein«, sagte sie und schüttelte schwach den Kopf. Blutverklebte Locken ihres langen braunen Haars fielen über seinen Arm. »Hat keinen Sinn. Hör zu …« Sie zog mit kraftlosen Fingern an seinem schwarzen Ärmel. »Dannon …«
In dem Bewußtsein, daß draußen magistratische Soldaten lauerten, ignorierte er ihre Worte, hob sie wie ein Kind hoch und trug sie durch den Raum und in den langen Flur, der zur Tür führte.
»Jere … Jeremiel. Dannon … Tahn. Hat uns … betrogen. Er war … war hier. Vor einer halben Stunde.«
»Ich werde ihn töten, Syene. Das schwöre ich.«
Sie versteifte sich plötzlich; dann wurde ihr Körper von Krämpfen geschüttelt. Jeremiel war gezwungen, in die Knie zu gehen und sie auf den Boden zu legen.
Schmerz brannte in seinem Herzen und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ein Traum. Es ist nur ein Traum. Sie ist schon seit Monaten tot.
»Jeremiel?« hörte er Rudys Stimme, und er bemerkte die aufkeimende Furcht darin. »Jeremiel, mach schon!« Schwere Schritte hallten durch den Flur; dann blieb sein Freund abrupt stehen, als er Syene mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen sah.
Jeremiel nahm sie in die Arme und zog sie fest an seine Brust. Er murmelte in ihr blutiges Haar: »Ich brauche dich, Syene. Verlaß mich nicht.« Doch sie war schon fort. Er spürte, wie ihr totes Gewicht auf seinen zitternden Armen lastete.
Rudy gewährte ihm zehn Sekunden, um zu klagen, dann packte er seinen Arm und zog …
»Mister Baruch?« drang eine schluchzende Mädchenstimme aus weiter Ferne in das schreckliche Geschehen.
… ihn auf die Füße. »Du wirst das tagelang nicht begreifen, mein Freund, aber ich rette dir das Leben.«
Zusammen liefen sie nach unten und in den Sturm hinaus. Hinter einem Baum tauchten magistratische Soldaten auf. Er hörte Rudys Gewehr aufheulen und sah eine ganze Gruppe in einem roten Aufspritzen vergehen. Der erste Soldat sprang Jeremiel von hinten an und rammte ihm den Kolben seiner Pistole gegen die Schläfe. Halb betäubt wirbelte er herum und trat dem Mann kräftig in den Bauch. Er stolperte schon dem nächsten entgegen, bevor der erste auch nur auf dem schneebedeckten Gras gelandet war.
»Jeremiel!« brüllte Rudy. »Hier entlang. Wir müssen …«
»Jeremiel!« jammerte eine schwache Kinderstimme. »Ich habe Angst.«
Er spürte, wie er langsam ins Bewußtsein zurückgezogen wurde. »Was ist?« fragte er verwirrt.
Er schüttelte sich und saß aufrecht im Bett, bevor er das schreckliche Traumbild abschütteln konnte. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper und er erschauerte in der Kühle der Höhle. In der gegenüberliegenden Ecke glühten noch ein paar Kohlen schwach im Kamin. Aus der Nähe der Tür erklangen tapsende Schritte, die immer wieder von unterdrücktem Schluchzen und Schniefen übertönt wurden. Er konnte einen schwach sichtbaren hellen Fleck ausmachen, bei dem es sich um ihr Nachthemd handeln mußte.
»Jeremiel?« schluchzte das Mädchen.
»Sybil?«
»Ja. Ich habe Angst. Ich brauche jemand, der mich streichelt.«
»Einen Moment, Kleine«, sagte er unsicher. »Ich zünde nur schnell eine Kerze an, dann können wir …«
»Nein! Ich … ich sehe genug, um dich zu finden. Sprich einfach weiter, ja?«
»In Ordnung«, antwortete er und holte tief Luft. »Ich bin hier drüben … genau hier. Wie geht es dir denn?«
Ihre Schritte patschten rasch über den Steinboden und wurden nur hier und dort durch die Läufer gedämpft. »Wo bist du?«
»Ich bin genau hier, Sybil. Folge einfach meiner Stimme. Ja, so ist es gut. Du bist schon fast da. Nur noch ein bißchen weiter.«
Er spürte, wie ihre Füße die Schlafmatte berührten, und griff nach ihr, hielt dann aber inne, als er daran dachte, welchen Schrecken es auslösen kann, wenn unbekannte Hände nach jemandem greifen, der ohnehin schon verängstigt ist. »Ich helfe dir jetzt hinauf, in
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