Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
fremdartige Architektur und die merkwürdig verdrehten Bäume kamen ihm wie Splitter aus seinem Alptraum vor. Die akibanischen Eichen füllten die leeren Stellen zwischen den Kuppeln der Wohneinheiten und den Gewächshäusern, die schwer an ihrer Schneelast trugen. Jeder der eisigen Windstöße wirbelte Teile der weißen Masse auf die Straße hinunter. Vor ihm reckte sich das Apartmenthaus, in dem sich Syene zehn Stunden lang befunden hatte, wie ein Speer empor, der bereit war, seine Brust zu durchbohren. Er bewegte sich darauf zu.
»Jeremiel! Wir müssen hier verschwinden!« schrie Rudy Kopal und feuerte blindlings auf die heranstürmenden Soldaten, die plötzlich die Straßen zu verstopfen schienen. Sie kamen aus dunklen Hauseingängen, umklammerten im Lauf ihre Gewehre und vermischten sich mit den Zivilisten, die in Panik aus dem verwüsteten Teil der Stadt flüchteten.
»Verschwinde von hier, Rudy!« befahl er, warf sich zu Boden und rutschte auf Händen und Knien über den nächsten Hügel. Aus der Deckung einer ausladenden Eiche heraus überprüfte er das Gebäude mit seinem Zielfernrohr.
Eine Mutter mit fünf Kindern kletterte den Hügel vor ihm hinauf und zog dabei einen mit ihren Habseligkeiten beladenen Schlitten hinter sich her. Ein kleines Mädchen klammerte sich schluchzend an den abgetragenen grauen Rock der Mutter. Jeremiel konnte das Blut erkennen, das ihre Bluse durchtränkte und über ihre Hose herabströmte. Verwundet. Der Gedanke machte ihn krank. Wann waren die Dinge so aus dem Ruder gelaufen? Was hatte er versäumt? Irgend etwas, irgend etwas Wichtiges. Wenn Syene es geschafft hätte, den Major auch nur eine Stunde länger hinzuhalten, wäre dies alles nicht geschehen. Aber ganz offensichtlich hatte sie es nicht geschafft.
Kopal landete neben ihm auf dem Boden und richtete sein Gewehr auf das Gebäude. »Jeremiel, um Gottes willen, sie wußte, was sie tat! Sie hat uns Zeit erkauft. Wir können es alle lebend hier herausschaffen, wenn wir jetzt aufbrechen! Aber es muß jetzt sein. Hörst du mir überhaupt zu?«
Er drehte sich zur Seite und blickte in die vertrauten grauen Augen, die jetzt von Furcht erfüllt waren. Blut lief über Rudys olivfarbene Haut, klebte sein dunkles Haar an die Schläfen und befleckte den hellbraunen Kampfanzug.
»Ich habe Ihnen einen direkten Befehl erteilt, Kopal!« rief Jeremiel rauh. »Verschwinde von hier!« Er sprang auf, lief den Hügel hinab, flankte über den Zaun, der das Apartmenthaus umgab, und drängte sich zwischen den verängstigten Menschen hindurch, die aus dem Eingang strömten.
Hinter ihm brach plötzlich heftiges Feuer los, und er wirbelte herum. Rudy hechtete durch den Eingang und landete zwischen den Füßen der hektisch durcheinanderlaufenden Zivilisten. Er winkte drängend mit seinem Gewehr. »Geh schon, ich decke den Eingang. Aber sie kommen rasch näher, Jeremiel. Beeil dich!«
Er stürmte die Treppen zum dritten Stock empor und nahm immer drei Stufen auf einmal, während ihm das Herz heftig gegen die Rippen klopfte. Als er den obersten Absatz erreichte, trat er die Tür auf und rollte sich hindurch. Er fand sich in einem leeren Flur wieder. Wenn die Regierung ihre Leute bereits evakuiert hatte und alle anderen flüchteten … Ein eisernes Band schien sich um seine Brust zu legen.
Er kam auf die Füße, lief auf die letzte Tür rechts zu und rief: »Syene?«
Er trat die Tür auf und wich in Erwartung des Hinterhalts zurück. Doch niemand schoß, kein Geräusch war zu hören. Nur die Schreckensschreie der Menge, die durch die Straßen flüchtete, drang von draußen in die Stille des Raums.
Er stürmte mit schußbereitem Gewehr hinein und ließ den Blick rasch über umgekippte Möbel, zerbrochenes Glas und den blutbespritzten Teppich wandern. Ein erbitterter Kampf hatte hier stattgefunden. War sie … war sie entkommen? Wartete sie jetzt irgendwo außerhalb der Stadt auf ihn? Plötzliche Hoffnung erfüllte ihn, und er holte tief Luft, bevor er durch die Küche und dann einen langen Flur entlang stürmte.
Im letzten Zimmer … fand er sie.
Sie lag nackt und mit gespreizten Beinen auf dem Bett. Ihre Hände hatte sie zum geöffneten Fenster ausgestreckt. War sie so verzweifelt gewesen, daß sie aus dem dritten Stock springen wollte? An der hellen Flüssigkeit, die über die Innenseiten ihrer Schenkel herabgelaufen war, konnte er erkennen, was man mit ihr gemacht hatte.
Seine Beine gaben nach, als er entdeckte, welche Blutmenge das Bett
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