Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
Schweigen! Wir anderen müssen morgen arbeiten!«
»Pst! Onkel, nicht …« Ihre Stimme verstummte plötzlich, und ihre Augen weiteten sich vor Angst.
Er folgte ihrem Blick und sah den Marine wie eine Silhouette im Eingang stehen. Für Talos desorientierten Verstand sah es so aus, als würde er wie ein Geist heranschweben.
»Wasser!« krächzte er. »Nichte, gib mir etwas Wasser, bevor sie es verbieten. Mir ist so heiß.«
Am ganzen Körper zitternd, wich Myra von seinem Lager zurück. Der rothaarige Marine blickte auf Talo herab, und der alte Mann erschauerte unter dem Haß in den kalten blauen Augen, der ihn wie das giftige Wasser des Ozeans im Norden überflutete.
»Wasser!« bat er den Söldner. »Ich habe Fieber. Nur ein bißchen Wasser, um meine Kehle zu kühlen.«
»Hast du das Mädchen nicht gehört? Sie hat gesagt, du sollst still sein.«
»Nur ein bißchen, bitte. Ich brauche nur …«
»Halt die Klappe!«
»Nur einen Schluck …«
Der Marine schlug ihm heftig auf den Kopf, und Talo hörte seinen Schädel brechen. Es kam ihm so vor, als würde sein Gehirn aus der schützenden Hülle herausfließen, denn er spürte eine schleimige Feuchtigkeit an seinem Kopf.
Er keuchte, und sein Körper wurde gefühllos. Dennoch zwang er sich, noch einmal »Wa … Wasser« zu murmeln.
Der Marine machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die Tür zu. Bevor er den Raum verließ, brüllte er: »Ihr dreckiges Pack laßt besser die Finger von ihm. Wenn wir merken, daß einer von euch ihm heute Nacht geholfen hat, werdet ihr alle dafür büßen!«
Leises Gemurmel drang durch die Dunkelheit, doch einen Moment später beugte Myra sich wieder über Talo. Ihre Lippen zitterten, und Tränen rannen über die zerschlagenen Wangen. »Onkel …«
»My … Myra.« Er versuchte, ihren Namen liebevoll auszusprechen, doch seine Stimme knirschte wie Sand auf Stein.
Seine Kräfte verließen ihn so schnell, wie Wasser aus einem löchrigen Eimer herausrinnt. Doch er empfand nur ein Gefühl der Freiheit, ein friedvolles Hinübergleiten in die Vergessenheit. Er entspannte sich und genoß träumend den kühlen Hauch der Nacht.
Und er wanderte wieder durch die alten Straßen. Kerzen erhellten die Fenster, und der Morgenwind trug den Duft von frischgebackenem Weißbrot heran. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, als er um die Ecke bog und wieder die Steintauben sah, die sich vor der Bäckerei sammelten. Sie rannten gurrend und flatternd voller Erwartung auf ihn zu, denn sie wußten, daß er wie immer Brot für sie in seinen Jackentaschen mitgebracht hatte.
Mikael kuschelte sich unter der blauen Decke zusammen und zog sie bis zu den Ohren hinauf. Die Kälte schien aus dem Fels zu kriechen und sich ihm von allen Seiten zu nähern. Seine Mutter zog eine Kiste mit zusätzlichen Decken unter dem Bett hervor. Sie wirkte sehr erschöpft, und das Licht, das sonst in ihren Augen zu strahlen schien, war verschwunden. Das schwarze Haar hing in schmutzigen Strähnen über ihre Schultern. Mikael bekam sie nur noch selten zu Gesicht. Den größten Teil des Tages, und oft auch noch bis tief in die Nacht hinein, sprach sie mit Erwachsenen. Für ihn hatte sie in letzter Zeit nur noch tadelnde Bemerkungen übrig wie: »Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin, Mikael? Geh nach draußen und spiel!« Oder: »Heulst du schon wieder? Wirst du denn nie erwachsen und ein Mann?« Er fühlte sich einsam und verängstigt.
»Mama?« fragte er und nahm all seinen Mut zusammen. »Werden wir sterben, so wie Großvater und Tante Ezarin?« Er hatte einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt und wußte, daß etwas sehr Schlimmes im Gange war. Cousin Shilby hatte gesagt, es würden große Schiffe kommen und violettes Feuer herabregnen lassen, bis die Felsen wie Eis in der Sonne zerschmolzen.
Mit einer heftigen Bewegung schüttelte Sarah eine Decke aus und breitete sie über ihn. »Uns wird nichts passieren, Mikael. Schlaf jetzt. Es ist schon sehr spät.«
Doch Mikael konnte nicht einschlafen. Er hatte sich so in die Decken eingegraben, daß nur noch seine Augen hervorschauten. Die Worte seiner Mutter hatten ihn keineswegs beruhigt. In ihrer Stimme war ein Zittern gewesen, das seine ohnehin schon unsichere Welt noch mehr erschüttert hatte.
»Mama, warum wollen die Männer, die die Aufstände in den Wüsten und Tälern anführen, uns nicht helfen?«
»Ich weiß nicht.«
»Mögen sie uns nicht?«
»Sie mögen mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich
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