Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
verspürte einen stechenden Schmerz in seinem Innern, als wäre dort ein Organ zerrissen. Doch ungeachtet der Schmerzen zwang er sich abermals zum Aufstehen und schaffte es tatsächlich, sich auf die Knie zu erheben. Ein Gebet stieg in seinem Herzen auf, ein Gebet an den Gott aller Götter, der ihn, wie er wußte, in seine Arme nehmen würde, wenn die Marines mit ihm fertig waren. Epagael, Herr des Universums, gib mir Kraft.
»Zurück an die Arbeit!« brüllte der rothaarige Marine der Menge zu, die sich inzwischen versammelt hatte. Doch niemand rührte sich. Alle standen wie angewurzelt und schauten voller Entsetzen zu.
»Ihr wollt wohl auch nicht arbeiten, was? Möchtet lieber was erleben, bevor ihr weitermacht? Na schön, das könnt ihr haben!«
Der Marine hob den schweren Knüppel wieder und wieder und schlug gnadenlos auf Talo ein. Der andere Soldat schloß sich nach ein paar Sekunden an und drosch auf Talos Beine ein. Sie lachten ihn aus, während sich ein grauer Nebel erhob. Von irgendwoher glaubte er eine Stimme zu vernehmen, die flüsterte: »Wir werden sie töten. Es dauert nicht mehr lange. Rachel ist zurück. Sholmo sagt, seine Mutter hätte gesehen, wie sie letzte Nacht in den Palast ging. Warte, bis sie …«
Talo erwachte und sah durch ein Loch im Dach die Sterne schimmern. Doch sein Blick war trübe, und die Welt blieb auf unangenehme Art verwaschen. Stechender Geruch von Chemikalien erfüllte die Luft, und Talo hörte leise Schritte, die sich näherten. In plötzlicher Panik glaubte er, es wären die Marines.
»Nicht schlagen!« flehte er und versuchte den Kopf mit seinem einzigen Arm zu bedecken. »Bitte, nicht schlagen!«
Myra beugte sich über ihn. Die Enden ihres blauen Kopftuchs berührten seine Wangen. Er starrte sie für einen Moment blind an; dann sah er die Blutergüsse und Wunden, die ihr einst hübsches Gesicht verunstalteten. Er legte sich den Arm über die Augen und schluchzte. Die Marines hatten Myra verletzt, weil sie versucht hatte, ihm zu helfen. Dieses Wissen schmerzte um so mehr, als er wußte, daß er weiterhin auf ihre Hilfe angewiesen war.
»Onkel Talo«, flüsterte Myra liebevoll. »Still! Pst! Du darfst nicht so laut weinen. Wenn sie das hören, wird alles nur noch schlimmer.« Sie schaute nervös über die Schulter. Er folgte ihrem Blick und sah einen leeren Hauseingang. Befanden sie sich irgendwo dort drinnen? Die Soldaten, die nachts die Arbeitsgruppen bewachten?
Dennoch konnte Talo den Tränenstrom nicht aufhalten. Ich sollte Myra fortschicken, sie zwingen, mich sterben zu lassen, dachte er dumpf.
»Haltet die Klappe!« rief jemand. »Bring ihn zum Schweigen. Sie werden uns alle töten, wenn er sie aufweckt!«
Talo umklammerte schwach ihren Ärmel. »Geh fort! Du … du darfst mir nicht helfen.«
»Still!« zischte sie ängstlich und legte ihm eine Hand auf den Mund.
Durch ihre Finger hindurch keuchte er: »Rachel …?«
Myra nahm zögernd ihre Hand fort und blickte noch einmal zur Tür hinüber. »Sprich leise, Onkel. Was ist mit ihr?«
»Habe ich recht gehört? Ist es wahr? Sie ist zurück?« Er empfand die gleiche schmerzliche Hoffnung wie beim Gedanken an die Ankunft des Erlösers.
»Wir sind uns nicht sicher. Du weißt ja, daß Sholmos Mutter Martha nicht mehr bei klarem Verstand ist. Vielleicht hat sie im Mondlicht jemand anderen mit Rachel verwechselt. Sie hat auch eine ganze Woche lang ununterbrochen über die Ankunft des wahren Mashiah gebrabbelt. Tag und Nacht ging das, und niemand konnte sie zum Aufhören bringen.«
»Er ist nahe«, versicherte Talo. »Er kommt.«
»Ich glaube dir, Onkel«, sagte sie sanft, doch an ihrem Tonfall konnte er erkennen, daß es nicht stimmte. Sie zögerte; dann flüsterte sie: »Ich kann dir noch etwas erzählen. Aber du mußt mir versprechen, ganz still zu bleiben und nur zuzuhören.«
Er nickte eifrig.
»Wir haben auch aus anderen Quellen Gerüchte gehört, wonach Rachel sich im Palast aufhält. Es heißt, sie wäre den ganzen Tag mit dem Mashiah zusammen. Doch niemand weiß genau, was dort vorgeht.«
Talo fühlte sich plötzlich am ganzen Körper heiß und fiebrig. »Sie überzeugt ihn davon, uns freizulassen.«
»Oder sie ist übergelaufen.«
Er starrte sie entgeistert an. »Nein! So etwas darfst du nicht einmal denken! Sie … sie wird sich um uns kümmern«, keuchte er. »Du wirst schon sehen. Sie ist das Werkzeug Epagaels!«
»Um Gottes willen!« flüsterte jemand aufgebracht. »Bring ihn zum
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