Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
stellen.
»Können wir nicht weglaufen und uns in den Bergen verstecken? Du hast mal gesagt, er könnte uns nicht finden, wenn wir …«
»Wir werden es versuchen, Kleines.« Rachel küßte Sybil auf die Stirn und zog sie enger an sich. Die kleinen Hände auf ihrem Rücken zu spüren, war so tröstlich wie eine warme Decke in einer kalten Winternacht. Sie gab sich einige Sekunden ganz diesem Gefühl hin und sagte dann: »Sybil, ich möchte, daß du etwas für mich tust. Willst du es versuchen?«
»Was denn?«
»Erinnerst du dich an den zweiten Vornamen deiner Großmutter?«
Sybil runzelte die Stirn, ihr Blick wanderte nachdenklich über die verrottenden Bretter der Scheune. »Nein.«
»Mekilta. Kannst du das wiederholen?«
»Mekilta.«
Rachel atmete tief die nach Heu duftende Luft ein und ließ den Blick auf den hellen Flecken des Mondlichts ruhen, das durch das geborstene Dach über ihrem Kopf hereindrang. »Wenn irgend etwas passiert, Sybil, und wir getrennt werden, dann möchte ich …«
»Aber wir werden nicht getrennt, Mommy«, flüsterte sie beschwörend. »Du würdest doch nicht zulassen, daß sie mich fangen!«
»Nein, nein, Liebes, das würde ich nicht. Aber wenn etwas passiert, wenn … der Mashiah mich vielleicht fängt, dann möchte ich, daß du zurück in die Stadt läufst, am ersten Haus, an dem du vorbeikommst, anhältst und dort an die Tür klopfst. Wenn die Leute dir öffnen, sagst du ihnen, du bist Sybil Mekilta, ja? Wirst du dir merken, nicht Eloel zu sagen?«
»Ich merke es mir. Aber ich will bei dir bleiben! Selbst wenn der Mashiah …«
»Nachdem du den Leuten dort erzählt hast, daß du Sybil Mekilta bist, sagst du ihnen, deine Mommy und dein Daddy sind an der Seuche gestorben, und du brauchst ein neues Zuhause, verstehst du?«
Tränen schimmerten in den Augen ihrer Tochter, und ihr Mund zitterte. Sie krallte ihre Finger in Rachels Haar und zog unabsichtlich daran. »Mommy, ich will nicht …«
»Hast du verstanden?«
Sybil preßte beide Hände auf den Mund und fing an zu weinen. Ihr leises Schluchzen klang wie das Klagen einer Katze. »Mommy!« stieß sie unter Tränen hervor. »Wo ist Daddy? Warum kann ich nicht zu ihm gehen, wenn der Mashiah dich fängt?«
Rachel schloß die Augen. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Irgendwann in den letzten Tagen war ihr eigener, unerträglicher Kummer einer resignierten Hinnahme gewichen. Sie hatte vergessen, daß ihre Tochter die Wahrheit noch nicht kannte. Dann aber tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß ihnen auch dann nicht die Zeit geblieben wäre, über Shadrachs Tod zu sprechen, wenn sie daran gedacht hätte. Und jetzt … jetzt kam es ihr so vor, als wäre das die schwierigste Aufgabe, die sie in ihrem ganzen Leben gehabt hatte.
»Mommy? Mommy, es ist schon in Ordnung.« Rachel spürte, wie die Hand des Mädchens die Träne von ihrer Wange strich, und dann legten sich die Arme um ihren Hals. »Daddy versteckt sich irgendwo. Das weiß ich genau. Ich habe geträumt, daß Daddy in einem alten Keller saß und Suppe aß. Er konnte nicht zu uns kommen, weil er krank war, aber er wird wieder gesund, Mommy. Und dann hat er …«
»Sybil«, flüsterte Rachel unsicher, »Mommy möchte, daß du jetzt tapfer bist. Versprichst du das?«
Das Mondlicht fiel über Sybils Gesicht, als sie aufschaute und schwer schluckte. »Ja.«
Rachel wappnete sich, um sich nicht von den Erinnerungen überwältigen zu lassen. »Erinnerst du dich, wie die bösen Männer während der Sighet-Feier in den Tempel kamen?«
Sybil erschauerte unwillkürlich, und Stille senkte sich wie ein Leichentuch über die beiden. Rachel versuchte die Fassung zu bewahren, während sie um die richtigen Worten rang.
»Geht … geht es Daddy gut? Mommy …?«
Rachel setzte sich auf und zog Sybil an sich. Ihr eigener Kummer drohte sie zu ersticken. »Nein.«
»Haben die Soldaten des Mashiah Daddy verletzt?«
»Daddy ist tot, Kleines.« Der Schmerz schlug erneut zu, und sie fing an zu weinen. Ihre Schultern zuckten, und die Tränen fielen auf das Haar ihrer Tochter.
»Nein, Mommy«, sagte Sybil fest und wischte sich mit der Hand die Nase ab. »Er lebt. Ich habe ihn in meinem Traum gesehen. Er …«
»Er ist tot, Kleines!«
»Du wirst schon sehen, Mommy«, flüsterte Sybil ruhig. »Ehrlich!«
»Nein«, erwiderte Rachel unter Tränen. »Ich kann nicht erklären, wieso, aber ich weiß, daß er tot ist. Ich spüre einen leeren Platz in meiner Seele, wo er immer gewesen
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