Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
ist. Er ist gestorben.« Und Ornias hat das auch gesagt.
»Nicht weinen, Mommy.« Sybil stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Wange an die ihrer Mutter legen zu können, und streichelte ihr mit einer Hand das Haar. »Nicht weinen. Selbst wenn Daddy tot wäre, sehen wir ihn doch im Himmel wieder.«
Rachel drückte das Mädchen so fest an sich, daß ihr das Atmen schwer fiel. Ihre Gedanken wanderten zu den langen Jahren, die vor ihr lagen. Das kleine Mädchen glaubte nicht an den Tod des Vaters. Schützte sich ihr junger Verstand so vor dem Schock? Doch wie würde das Kind reagieren, wenn ihr die Wahrheit dämmerte? Und wie sollte sie selbst ohne Shadrachs Stärke und Sanftmut überleben? Als er starb, hatte er alle Freude aus ihrem Leben genommen. Und der Himmel? Gott hatte all ihre Träume in Staub verwandelt. Selbst wenn sie so alt wurde wie Gott selbst, nie würde sie jene Tage auf dem Platz vergessen, als die violetten Strahlenlanzen ihren Glauben für immer zerstört hatten.
Rachel schlug die Augen auf und versicherte ihrer Tochter: »Du hast recht, Kleines. Daddy wird im Himmel auf uns warten.«
Sybil nickte und reckte ihre kleinen Schultern, als wäre sie bereit, auch die unerträglichste Last auf sich zu nehmen. Sie küßte Rachels nasse Wange und wisperte: »Laß uns gehen, Mommy. Wir verstecken uns in den Bergen. Dort werden sie uns nicht finden. Wir können Grashühner mit Steinen erlegen, so wie Daddy es uns gezeigt hat. Erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich.« Gedanken an Frühlingstage und Picknicks in den Bergen überfluteten ihren Geist und verstärkten den Schmerz so sehr, daß sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.
»Und wir können die Wurzeln ausgraben, die bei den Wasserlöchern wachsen. Auf diese Weise haben wir dann auch Gemüse. Ja, Mommy?«
»Ja …«
»Dann komm jetzt. Wir müssen gehen, bevor der Mashiah seine schwarzen Schiffe schickt, um uns zu suchen.«
Rachel schaute lange aus dem Fenster. Wolkenfetzen trieben durch den bleiernen Himmel über den schroffen Bergspitzen und leuchteten wie poliertes Zinn. Als der Mond langsam herabsank, wanderten die schwarzen Schatten der Berge über die Wüste und schienen den Duft von Salbei und kargen Dornbüschen mitzuführen. Von ihrem Standort aus wirkten die Bergspitzen so nah, als brauche sie nur die Hand auszustrecken, um den kalten Stein zu berühren. Doch sie wußte, allein bis zum Vorgebirge waren es fünf Meilen, und bis zur Sicherheit der Höhlen mindestens zehn.
»Zuerst gehen wir nach unten ins Haus und schauen nach, ob die Leute, die früher hier wohnten, etwas Eßbares in den Schränken zurückgelassen haben. Und dann …«
»Ich helfe dir, Mommy. Wir können aus unseren Schleiern Beutel machen, um die Sachen darin zu tragen.« Sybil krabbelte auf Händen und Füßen über das braungelbe Stroh zur Leiter hinüber.
Rachel folgte langsam, und das Herz klopfte dumpf in ihrer Brust.
Der perlmuttfarbene Glanz der Morgendämmerung wurde vom Nebel reflektiert, der wie ein schimmernder Schleier in der eiskalten Luft zwischen Bäumen und Weinreben hing.
Jeremiel fröstelte leicht, als er zum Höhleneingang schritt und sich mit der Schulter gegen den rauhen Stein lehnte. Der Himmel hatte eine stumpfgraue Färbung angenommen, und ein leichter Regen fiel über dem Wald. Die Kiefern bogen sich knarrend in der kühlen Brise; ihr stechender Geruch mischte sich mit dem Duft feuchter Erde.
Seine Furcht hatte ein wenig nachgelassen und war einer schrecklichen Müdigkeit gewichen, die alles wie einen Traum erscheinen ließ. Doch er konnte sich nicht selbst darüber hinwegtäuschen, daß sie im Moment bestenfalls eine Atempause hatten.
Vielleicht sorgte aber auch seine Erschöpfung dafür, daß alles, was er wahrnahm, von Hoffnungslosigkeit gezeichnet schien. Zwei Monate lang hatte er eine gefährliche Charade gespielt, Schlachtpläne für seine Truppen entworfen, nur dann mit anderen Menschen gesprochen, wenn es unumgänglich war, und sich nachts mit dem Wissen in seine Kabine zurückgezogen, daß er schon eine Stunde später schweißgebadet wieder hochschrecken würde. Zum Glück wußten seine Offiziere genug, um ihn in Ruhe zu lassen. Sympathie oder Mitleid hätte er nicht ertragen. Dann wäre es ihm unmöglich geworden, die Fassade der Härte aufrecht zu erhalten, die er im Umgang mit seinen Streitkräften brauchte. Kündigte diese neue Gelassenheit eine Linderung des Schmerzes an? Würde er jetzt verstehen und
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