Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
heran und schien ihn niederdrücken zu wollen. »Ich komme ja schon«, murmelte er. »Dräng mich nicht, Sedriel! Ich …«
»Zadok?« erklang eine himmlisch schöne Stimme. »Bist du das?«
Zadok machte ein finsteres Gesicht und stemmte die Hände in die knochigen Hüften. »Ich habe doch gesagt, daß ich es bin. Bist du in den vergangenen drei Jahren taub geworden? Oder nur senil?«
»Oh, Zadok«, dröhnte Sedriels Gelächter durch den schwarzen Tunnel. »Ich habe dich so vermißt. Komm. Komm her, du kleinmütiger Sterblicher. Du bedeutungsloser, aus einem weißen Tropfen geborener Lump. Komm und laß mich …«
»Ich komme ja! Der Teufel soll dich holen, du flammendes Biest!« Zadok marschierte schwerfällig den Tunnel empor und beobachtete, wie mitten im Grau ein strahlend goldener Punkt aufleuchtete.
Kaltes Mondlicht strömte durch das Dachfenster und überzog Sybils mahagonifarbenes Haar mit silbernem Frost. Sie kniete auf dem trockenen goldgelben Stroh und zerknüllte mit ihren kleinen Fingern ängstlich den Saum ihrer blauen Robe. Sie befanden sich in einer baufälligen, aus Planken zusammengezimmerten Scheune. Nur durch Seile gehaltene Balken hingen von dem halbzerstörten Dach herab. Sternenlicht fiel durch fußbreite Löcher und beleuchtete Heugabeln und Hufnägel, die unten in den Ställen herumlagen. Der Geruch von Tierdung und altem Leder hing in der Luft.
»Mommy, kannst du etwas sehen? Kommen sie hinter uns her?«
»Bis jetzt sehe ich sie nicht.« Rachel rückte näher an das Fenster heran und schaute auf die unfruchtbaren Felder, welche die verlassene Farm umgaben. In der Ferne funkelte Seir wie eine umgestürzte Piratenschatztruhe. Gold und weiße Brillanten blitzten an den Rändern der hellen, rubinroten Flamme, die das Zentrum der Stadt erleuchtete. Beim Anblick der tobenden Flammen wurde Rachel das Herz leicht – und zugleich schwer. Wie viele waren gestorben? Hatte sie Freunde getötet, die zusammen mit ihr im Garten gespielt hatten, als sie noch ein Kind war? Die Cousinen, die sie immer davor gewarnt hatten, sich in Shadrach zu verlieben, einen wohlbekannten »Aufrührer«? Die alten Leute, die sie haßerfüllt angeschaut und angespuckt hatten, nur weil sie zu bedenken gegeben hatte, der Mashiah sei vielleicht nicht der verheißene Erlöser, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatten? Rachel ballte ihre Hand zu einer Faust. Sie hatte nie vorgehabt, irgend jemanden zu töten … niemals. Doch manchmal ließen sich Tote nicht vermeiden.
»Wer hat auf dieser Farm gewohnt, Mommy?«
Rachel schob die Gedanken an den Tod beiseite. »Ich glaube, sie hießen Mahn.«
»Wo sind sie hingegangen?«
»Wahrscheinlich sind sie fortgezogen, als die Dürre all ihre Tiere getötet hat. Vielleicht sind sie aber auch Opfer der Seuche geworden.«
Sybil zögerte und schaute ein wenig verloren drein. »Oder vielleicht ist der Mashiah gekommen, um sie zu töten, weil sie noch immer an Epagael glaubten?«
Rachel drehte sich um und sah den angsterfüllten Blick ihrer Tochter, doch sie hatte weder die Kraft noch die Absicht, sich eine beruhigendere Geschichte auszudenken. Davon abgesehen machte Sybils finsteres Gesicht deutlich, daß sie Rachel sowieso nicht geglaubt hätte. »Vielleicht.«
Sybil zog nachdenklich einen Strohhalm aus ihren braunen Locken, bevor sie fragte: »Mommy, der Mashiah wird jetzt erst recht versuchen, uns umzubringen, nicht war?«
Als Rachel die Angst in dieser zarten Stimme hörte, rollte sie sich herum und streckte die Arme aus. Sybil krabbelte schnell in die angebotene Geborgenheit. »Das wird er doch, oder, Mommy?«
Rachel strich ein paar Haarlocken aus Sybils hübschem Gesicht. »Ich werde dich jetzt wie ein großes Mädchen behandeln, in Ordnung?«
Sybil nickte. Sie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. »Das bedeutet ja, nicht wahr?«
»Ja. Ich glaube, uns bleibt vielleicht noch eine Stunde, bis der Mashiah seine Samaels ausschickt, um uns zu suchen.« Allein der Gedanke an die schrecklichen schwarzen Schiffe ließ ihr einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Sie wußte nur in Grundzügen über die schrecklichen Möglichkeiten dieser Einheiten Bescheid. Shadrach hatte ihr geduldig alles gesagt, was er darüber wußte, doch niemand war genau darüber im Bilde. Konnten die Samaels sie selbst in den Höhlen aufspüren? Sie warf einen Blick auf Sybils hoffnungsvolles Gesicht und betete insgeheim, ihre Tochter würde nicht ausgerechnet diese Frage
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