Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wider, als er weiterlief und dabei eine Hand gegen die Wand drückte, um sich in der pechschwarzen Finsternis orientieren zu können. »Sarah!« Entsprechend seiner Erinnerung bog er erst rechts, dann links ab.
Andere Stimmen wurden in den Gängen laut. Irgendwo weiter oben hörte man genagelte Stiefel über Stein kratzen.
»Sarah?«
»Hier«, antwortete eine schwache Stimme. Jeremiel fuhr herum.
»Wo?«
»Hier drüben, an der Wand.«
Jeremiel folgte ihrer Stimme und hielt dabei die Hand vor sich ausgestreckt. Immer wieder stieß er auf Stein; dann aber hörte er ihr heftiges Atmen und kniete nieder. Er tastete durch die kühle Luft, bis seine Finger schließlich ihr Gesicht berührten. Sie zuckte heftig zurück. Beruhigend streichelte er ihre Wange. »Es ist alles in Ordnung, Sarah.« Ihre Haut fühlte sich unter seinen Fingern schrecklich kalt an. »Warst du das, die geschrien hat?«
»Ja.«
»Warum?«
»Etwas Furchtbares ist in diesem Gang. Ich habe noch nie so etwas gesehen. Und es kam auf mich zu!«
»Was? Was war es? Kannst du …«
Er hielt inne, als der Schein von einem Dutzend Kerzen weiter hinten im Gang aufleuchtete. Stimmengewirr drang zu ihnen herüber. Menschen in bunten Roben drängten sich in dem engen Korridor und warfen sich fragende Blicke zu. Jetzt, wo es wieder Licht gab, bemerkte Jeremiel, daß Sarahs angstvoll aufgerissene Augen fest auf eine bestimmte Ecke gerichtet waren, und er folgte ihrem Blick.
Es stand dort, eine schreckliche Dunkelheit in der Form eines beobachtenden Mannes.
»Gesegnet sei Epagael«, flüsterte Jeremiel kaum hörbar. Er richtete seine Pistole auf den »Lauscher«. So viel also zur Theorie der begrenzten Reichweite. »Wer bist du? Was willst du hier?«
Menschen schnappten nach Luft, und die plötzlich zitternden Lampen warfen flackerndes Licht durch den Raum. Die Gestalt verschwand oder verschmolz mit den anderen Schatten. Jeremiel war nicht ganz sicher, was von beidem zutraf. Er streckte die Hand aus, packte Sarahs Arm und half ihr auf die Füße.
»Komm, laß uns zur Oberfläche gehen, wo Licht ist«, sagte er.
»Ja, nur schnell weg.« Sie riß sich von ihm los, drängte sich durch die Menge und lief den Gang empor. Jeremiel folgte ihr im gleichen Tempo und lauschte den flüsternden Stimmen hinter ihm, deren Echo bis zu ihm drang. Eine Minute später fiel ihm ein, daß er Rathanial nicht in der Menge gesehen hatte, und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er wirbelte herum, nahm einem der hinter ihm Gehenden die Lampe ab und rannte zu Zadoks privatem Sanctum zurück, wobei er laut »Rathanial? Rathanial!« rief.
Als er am unteren Ende der Wendeltreppe ankam, hörte er ein leises Klicken. Es klang etwa so, als ob Glas gegen Stein stößt. Jeremiel blieb wie angewurzelt stehen. »Rathanial?«
Niemand antwortete. Er schluckte schwer, stieg die letzten Stufen hinab und betrat die kleine Höhle. Als er die Lampe hob, sah er den alten Mann vor der Nische, in der die Weinflaschen untergebracht waren, auf dem Boden liegen. Die Flaschen waren zum Teil zerbrochen; Glassplitter und Zinnbecher lagen überall im Raum verstreut. Jeremiel konnte keine Wunden entdecken, doch Rathanial hatte eine Hand ausgestreckt und kratzte mit den Fingern Furchen in den sandigen Boden, als taste er nach etwas.
»Vater?« Er ging schnell zu Rathanial hinüber, kniete sich hin und drehte den alten Mann auf den Rücken. Ein schwaches Stöhnen kam von seinen Lippen, und seine Augenlider flatterten. »Was ist passiert?«
»Das Mea Shearim«, keuchte Rathanial. »Er … hat es genommen.«
»Wer?«
»Etwas, das … aus der Dunkelheit kam.« Rathanial versuchte sich aufzusetzen, doch er war zu schwach und sank wieder zurück.
Jeremiel durchsuchte furchtsam die Schatten, während sein Finger den Abzug der Pistole umklammerte. War der »Lauscher« die Treppen zum Sanctum hinabgestiegen? Er erhob sich und trug das Licht langsam durch die Höhle, wobei er jeden Schatten auslöschte. Als er sich der Tür nährte, wollte er schon erleichtert aufatmen, als er eine schwache Bewegung bemerkte. Die Dunkelheit in der Nähe der Tür schien für einen Moment zu erzittern. Er hob die Lampe und ließ den Lichtstrahl auf den Eingang fallen. Die Angst traf ihn wie eine Faust, und er stolperte rückwärts. Hinter ihm schnappte Rathanial nach Luft.
Die samtige Schwärze strich dicht an den Wänden entlang, während sie lautlos davonglitt.
KAPITEL
10
Ein dunkler Wirbelwind tobte rings
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