Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
Der scharfe Geruch des Blutes hing noch immer in ihrer Nase.
Sie rieb über ihren verkrampften Bauch und blickte besorgt zu dem großen Mann hinüber, der ihre Mutter im Arm hielt.
KAPITEL
15
Echos unbekannter Stimmen umgaben Zadok, als er sich in den grauen Dunst am Ende des Tunnels schleppte. Der süße Duft von frischem Frühlingsgras trieb mit der schwachen Brise heran, die sein faltiges Gesicht streichelte.
»Zadok?« rief die majestätische Stimme Sedriels. »Hör auf, herumzutrödeln. Die Dinge in deinem Universum verschlimmern sich von Sekunde zu Sekunde.«
»Ich weiß. Ich spüre es in meinem Herzen«, erwiderte er und raffte den braunen Stoff über der Brust zusammen. In der letzten Stunde hatte er einen Schrecken empfunden, der sich zu einem unbeschreiblichen Crescendo steigerte. Was läuft falsch? Ist etwas mit Yosef? Habe ich ihn nicht ausreichend auf diesen Wahnsinn vorbereitet? Mein Fehler… mein Fehler.
Er holte tief Luft und trat aus dem Tunnel auf eine mit Wildblumen übersäte Wiese hinaus. Ein Schwarm von Fliegen glitzerte über dem riesigen, messerscharfen Bogen, der das erste Tor zu den sieben Himmeln Gottes bildete. Sedriel lehnte mit verschränkten Armen träge an dem Bogen. Seine strahlend weißen Flügel bewegten sich leicht, um die Fliegen auf Abstand zu halten. Die kristallenen Gesichtszüge leuchteten im warmen Sonnenlicht.
»Das wurde auch Zeit. Ich warte schon seit Tagen auf dich.«
Panik stieg in Zadok auf. Die Zeit schien innerhalb des Tunnels stets zu schwanken. Er erinnerte sich daran, daß er einmal eine ganze Woche mit Epagael gesprochen hatte und dann noch vor seiner Abreise wieder auf Kayan eingetroffen war. »Habe ich so lange gebraucht, um herzukommen?«
»Du wirst träge auf deine alten Tage.«
»Leg dich nicht mit mir an, Sedriel. Ich bin in Eile.«
»Ich werfe dir ja nichts vor. Aber ich bezweifle, daß du irgend etwas tun kannst, um den Wirbelsturm aufzuhalten, den Aktariel entfacht hat. Er ist diesmal sehr klug zu Werke gegangen.«
Zadoks Unruhe verstärkte sich. »Was soll das heißen? Was hat dieser verderbte Engel getan?«
Sedriel lächelte und strich die Ärmel seiner goldschimmernden Robe glatt. »Oh, er hat sich die richtigen Betrüger ausgesucht. Tölpel, die nicht einmal über die eigene Nasenspitze hinausschauen können.«
»Erzählst du mir jetzt, was er getan hat? Oder muß ich Epagael danach fragen?«
»Nicht so hastig, Zadok.« Er neigte den strahlenden Kopf und lachte leise. »Wir haben alle Zeit der Welt.«
»Geh mir aus dem Weg!« Zadok schleppte sich vorwärts und versuchte, durch das Tor zu gelangen, bevor der Hüter ihn aufhalten konnte.
Sedriel streckte rasch einen kristallenen Arm aus und versperrte ihm den Weg. »Nicht so schnell, Patriarch. Erst mußt du ein paar Fragen beantworten.«
»Was? Ich dachte, wir hätten das schon vor Jahren erledigt. Schließlich habe ich oft genug nachgewiesen, daß ich in den Geheimnissen der gamantischen Zaddiks wohlbewandert bin. Warum …«
»Weil mir soeben Zweifel gekommen sind, ob du wirklich würdig bist, den Schleier zu schauen.«
Zadoks Mund klappte auf. »Zum Teufel mit dir, du arrogante Bestie! Du treibst hier deine Spielchen, während das Überleben der Gamanten am seidenen Faden hängt? Hast du den Verstand verloren? Ich bin hier schon einhundertvierzig Mal …«
»Einhundertzweiundvierzig.«
»Was für eine Frage könntest du denn noch stellen, die ich nicht schon längst beantwortet hätte?«
Sedriel schüttelte das goldene Haar aus der Stirn und lächelte verschmitzt. »Mal sehen. Habe ich dich je nach Avrams Flucht aus Ur gefragt?«
»Ja! Nach seiner Flucht und nach dem Turmbau zu Babel. Beides wird im alten Buch des Pseudo-Philo beschrieben. Was hat das mit meinem Weg zum Schleier zu tun?«
Sedriel lächelte listig. Hinter ihm flogen einige pausbäckige Cherubim durch den blaßblauen Himmel und spielten Haschen. »Oh, eine ganze Menge, Zadok. Ja, wirklich eine ganze Menge. Kennst du die Bedeutung dieses alten Wortes?«
»Was für ein Wort?«
»Ur.«
Zadok durchwühlte seine Erinnerungen. »Nein … ich …«
»Du dummer alter Narr. Ist dein Gedächtnis schon so schlecht geworden?«
Zorn beflügelte Zadok, und die Übersetzung glitt wie von selbst über seine Lippen. »Feuer! Ich erinnere mich, es bedeutet …«
»Sehr gut. Avram war der Vater des Volkes. Und wer war die Mutter?«
»Rachel. Sie…«
»Avram ist dem Feuerofen entkommen. Glaubst du, sie
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