Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wecken.«
»Warum lassen Sie mich nicht einfach mit der Waffe schlafen? Ich würde Ihnen nichts tun«, schlug sie treuherzig vor. »Dann bräuchten wir uns beide keine Sorgen zu machen.«
»Das gilt vielleicht für Sie, aber nicht für mich. Diebe machen mich nervös.«
»Ich stehe zu meinem Wort.«
»Ja, das mag stimmen. Aber ich kann dessen nicht sicher sein, oder? Ich kann es mir nicht erlauben, Ihnen weiter zu trauen als Sie mir. Das hier ist eine viel bessere Lösung, denke ich. Auf diese Weise …«
»Sie können die Pistole immer noch erreichen«, behauptete Rachel. Sie sah zwar die Logik seiner Argumentation ein, fürchtete ihn aber dennoch.
»Also schön«, seufzte er. »Rutschen Sie ein paar Schritt zurück, ich folge Ihnen dann.«
Sie tat wie geheißen und rückte so weit, bis er mehr als eine Armeslänge von der Waffe entfernt war. Ihr Herz klopfte, als er sie grob wieder an sich zog und sich hinlegte. Kälte kroch durch den Boden und ließ sie zittern.
»Wir sollten jetzt wirklich versuchen, ein bißchen Schlaf zu bekommen, meinen Sie nicht auch?«
»Ich kann nicht schlafen, wenn Sie mir die Luft aus den Lungen quetschen.«
Er rückte ein wenig zur Seite, um ihr mehr Platz zu verschaffen, hielt ihre Hände aber immer noch fest. »Wie ist es so?«
»Es geht«, brummelte sie mürrisch. Sie ließ den Kopf auf seinen Arm sinken, kämpfte jedoch gegen den Schlaf an, weil sie fürchtete, der Versuchung zu unterliegen. Sie hatte Angst, ihre Erschöpfung könnte so stark sein, daß sie nicht aufwachte, wenn er nach der Pistole griff. Andererseits war er ein sehr großer Mann, fast doppelt so schwer wie sie. Er würde gar keine Pistole brauchen, um sie zu töten. Ein quer über ihre Kehle gelegter Arm würde schon reichen.
Doch bis jetzt hatte er nichts unternommen, was ihr hätte schaden können, und langsam sank sie in den Schlaf.
Die ganze Nacht über wechselte sie zwischen erschreckenden Träumen und wachen Momenten hin und her, in denen sie seinen schweren Arm neben sich spürte. Einmal befand sie sich wieder auf dem Platz, und die Schwärze des Samael verdunkelte den Himmel, als er über ihr kreiste. Ornias’ freundliche Stimme übertönte die heulende Menge: »Bezeuget die Macht des Mashiah, gegen den ihr euch erhoben habt.« Und ihr Herz schlug wieder schnell und hart, als sie sah, wie die Wachen ihre Gewehre hoben und die Menge von einem Meer aus Blut weggeschwemmt wurde.
Sie schrak hoch und tastete blind in der Dunkelheit umher. Angst und ein Gefühl der Nutzlosigkeit peinigten sie, und sie weinte still vor sich hin. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und durchtränkten seinen Ärmel.
Sie spürte, wie Baruch sich spannte, dann zögernd eine Hand hob, abermals einen Moment zu überlegen schien, sie dann senkte, um ihr sanft über das Haar zu streichen.
Sybil starrte zur schwarzen Höhlendecke empor und tat so, als würde sie schlafen. In der vergangenen Woche war sie oft durch das Weinen ihrer Mutter aufgeweckt worden. Doch in dieser Nacht rief ihr leises Schluchzen sonderbare Gefühle in Sybil hervor. Als sie aufwachte, hatte sie sich mitten in einem Traum befunden, und das letzte Bild geisterte noch immer durch ihr Bewußtsein. Sie war ein Gutteil älter gewesen als jetzt, hatte oben auf einem grasbewachsenen Hügel gestanden und auf eine blutige Schlacht hinabgeblickt. Männer und Frauen hatten vor Schmerz geschrien und sich sterbend zusammengekrümmt. Neben ihr stand ein junger Mann, der ihre Hand so fest hielt, daß es schmerzte. Sein schwarzes lockiges Haar flatterte im frostigen Wind. In seinen Augen konnte sie Liebe und Verzweiflung erkennen.
»Sybil«, hatte er über den Donner der Kanonen hinweg gesagt, »ich kann Jeremiel nicht finden, und ich … ich weiß nicht, wie ich das hier allein beenden soll. Du kennst die Magistraten besser als ich. Wo sind sie verwundbar?«
»Indras Netz«, hatte sie geflüstert. »Wir müssen es zurück in den Himmel schaffen.«
Er hatte sich ihr mit leuchtenden Augen zugewandt, und dann hatte das Weinen ihrer Mutter die Szene unterbrochen und sie nach Horeb zurückgeholt. Sie wußte nicht, was Indras Netz war, aber mitunter hatte sie solche sonderbaren Träume. Ihr Vater hatte ihr zwar erklärt, daß die Gehirne der Menschen nachts Bilder produzierten, die nicht viel Sinn ergaben, doch sie glaubte, daß mehr daran war. Die Träume waren so wirklich. Und dieser hatte ihr mehr Schrecken eingejagt als alle, die sie je zuvor gehabt hatte.
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