Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
es nicht immer gelang, jemanden zu beschützen, auch wenn man es noch so sehr versuchte, doch es sah nicht so aus, als wollte Rachel sich noch weiter über dieses Thema unterhalten. Ihre Augen blickten wieder in weite Fernen. Als sie noch auf Horeb lebten, war Sybil immer, wenn sie einen merkwürdigen Traum gehabt hatte, zu ihren Eltern ins Bett geschlüpft und hatte sich zwischen sie gelegt, bis sie ihre Ängste vergessen hatte und wieder eingeschlafen war. Die Nähe der Eltern hatte stets alle Furcht vertrieben. Jetzt verspürte sie den dringenden Wunsch, sich von ihrer Mutter trösten zu lassen, doch zugleich hatte sie den Eindruck, daß es nicht mehr funktionieren würde. Rachel schien selbst viel zu nervös und verängstigt zu sein, um ihr Trost zu spenden. »Wenn es nicht die Magistraten sind, die dir Sorgen machen, was dann?«
»Oh, ich … es ist nur … Ich komme schon darüber hinweg. Mach dir deswegen keine Gedanken, Kleines.«
Sybil dachte eine Weile über diese Antwort nach und fragte sich, warum ihre Mutter nicht darüber reden wollte. Früher hatten sie immer miteinander gesprochen und sich gegenseitig alle Geheimnisse anvertraut. Doch das war damals, bevor ihr Vater getötet wurde. Jetzt hatten die Dinge sich geändert. Sybil überlegte, was sie ihrer Mutter erzählen könnte, um sie ein bißchen aufzuheitern, doch bevor ihr etwas eingefallen war, drang eine tiefe Stimme aus der Türsprechanlage.
»Rachel? Hier ist Avel Harper. Ich habe eine Nachricht von Jeremiel.«
»Avel!« rief Sybil begeistert. Avel hatte sich um sie gekümmert, als ihre Mutter fortgegangen war, um den Mashiah zu töten. Er hatte mit ihr gespielt und sie behandelt, als wäre sie seine eigene Tochter.
Rachel ging zur Tür und drückte auf den Öffner. Helles Licht strömte aus dem Flur herein und malte ein großes Rechteck auf den Boden, das sich bis zu Sybils Damebrett erstreckte. Avel stand groß und dünn im Eingang. Verglichen mit seinem mahagonifarbenen Gesicht wirkte das braune Gewand, das er trug, regelrecht blaß. Einer der Wächter, die ständig auf dem Flur postiert waren, blickte ihm über die Schulter.
Sybil sprang auf, lief zu Avel hinüber und umklammerte dessen Bein. »Avel! Du hast mir gefehlt. Wo bist du gewesen?«
Avel kniete nieder und umarmte sie. »Du hast mir auch gefehlt, Sybil. Tut mir leid, daß ich nicht eher vorbeikommen konnte, aber Jeremiel hat mich ständig auf Trab gehalten.«
Sybil lächelte ihn an und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Ist schon in Ordnung. Ich bin ja froh, daß du wenigstens heute gekommen bist.«
Avel küßte sie auf die Stirn und blickte dann zu Rachel hinüber. »Wie geht es Ihnen, Rachel?«
»Ganz gut, Avel. Stimmt etwas nicht?«
»Nein, kein Grund zur Sorge. Jeremiel möchte Sie nur heute abend kurz sprechen. Für morgen früh sind Sie zum Sicherheitsdienst auf Deck vier eingeteilt. Sind Sie damit einverstanden?«
Rachels Gesicht straffte sich. »Ja, selbstverständlich. Wann will er mich sehen?«
»Um neunzehn Uhr in seiner Kabine.«
»Sagen Sie ihm, ich werde dort sein.«
Sybil fühlte sich ganz elend, als sie sah, wie ihre Mutter den Blick senkte, unsicher ein paar Schritte zurücktrat und schließlich in der Mitte des Zimmers stehenblieb und die Arme fest um sich legte. Avels Augenbrauen zogen sich zusammen; dann aber drückte er freundschaftlich Sybils Schulter.
»Da ist noch etwas, Rachel.«
»Hmm? Was?« Rachel drehte sich halb herum und machte ein Gesicht, als wäre sie mit ihren Gedanken weit fort.
»Es gibt da jemanden, den ich Sybil gern vorstellen würde. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich sie mitnehme? Wir sind in Kabine 1911.«
Sybil kaute auf der Unterlippe und überlegte, was da vorgehen mochte. »Wer, Avel?«
Er zwinkerte ihr zu. »Jemand, den du bestimmt mögen wirst. Er ist ein bißchen jünger als du, aber nicht sehr viel.«
»Ein anderes Kind? Oh, Avel, das ist toll. Ich brauche doch unbedingt jemand, mit dem ich spielen kann. Darf ich gehen, Mom?« Sie hüpfte voller Vorfreude auf und ab. »Bitte, Mom!«
»Ja, Liebes. Aber ruf mich an, wenn du länger als eine Stunde fortbleibst.«
»Mach ich.«
Sybil lief hastig hinaus, nahm Avel bei der Hand und zerrte ihn den Flur entlang. Überall, wo die Korridore sich kreuzten, standen Wachtposten mit schußbereiten Gewehren. Jetzt, wo Sybil die bedrückend stille Kabine verlassen hatte, schwanden ihre Ängste wie Dunst in der Morgensonne. »Wer ist er, Avel? Hat er auf Horeb gelebt?
Weitere Kostenlose Bücher