Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
Vielleicht bin ich ja zusammen mit ihm zur Schule gegangen. Wie heißt er?«
Avel ließ sich lächelnd von Sybil führen. »Ich glaube nicht, daß du ihn kennst. Er stammt von Kayan, und er heißt Mikael Calas.«
»Calas, so wie Yosef?«
»Ja, er ist Yosefs Neffe.«
»Und er ist sieben? Wann hat er Geburtstag?«
»Das weiß ich nicht genau, aber du kannst ihn ja selbst danach fragen.«
Sybil wäre am liebsten den Flur entlang gerannt und hätte selbst nach Mikaels Kabine gesucht, doch sie verzichtete darauf, um Avels Gefühle nicht zu verletzen. Schließlich würde er sie bestimmt einander vorstellen wollen. Erwachsene waren eben so. Wenn sie einmal etwas geplant hatten, mochten sie es gar nicht, wenn plötzlich ein Kind kam und alles durcheinander brachte.
»Danke, daß du mich holen gekommen bist, Avel. Ich habe mich nicht besonders wohl gefühlt.«
»Wieso nicht? Bist du krank?« Avel legte eine Hand auf Sybils Stirn, um festzustellen, ob sie Fieber hatte.
»Ich bin nicht krank. Mir war nur schwer ums Herz.«
»Aha«, meinte Avel. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. »Machst du dir Sorgen wegen deiner Mutter?«
Sybil wischte sich die Nase ab und senkte den Blick auf ihre Füße. »Sie ist nicht mehr so, wie sie war, bevor sie fortgegangen ist, um den Mashiah zu töten, Avel. Sie hat sich verändert.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht genau. Sie ist … stiller. Sie hat auch nicht sehr viel mit mir geredet, seit sie zurück ist.«
Avel zog sie näher zu sich heran und streichelte sie sanft. »Nun, du mußt ihr etwas Zeit lassen. Sie versucht gerade, eine ganz neue Arbeit zu erlernen, und wahrscheinlich denkt sie auch noch immer an das, was auf Horeb geschehen ist. Das war alles nicht leicht für sie, verstehst du? Jemanden zu töten …«
»Aber sie hat den Mashiah doch gehaßt!«
»Jemanden zu hassen macht das Töten nicht leichter, Sybil.«
Sie dachte darüber nach. Avel drückte ihre Hand. »Was meinst du, wie lange sie braucht, bis sie wieder wie früher wird?«
»Oh, das ist schwer zu sagen. Aber ich wette, in vielleicht einem Monat ist sie wieder ganz sie selbst. Kannst du so lange warten?«
Sybil nickte. Sie kamen an einem weiteren Wachtposten vorbei, der das Mädchen anlächelte. Sybil lächelte zurück und schaute dann zu Avel auf. »Dann werde ich ganz besonders nett zu ihr sein. Vielleicht hilft ihr das, schneller über alles hinwegzukommen.«
»Das wird ihr ganz bestimmt helfen. Du bist schließlich das Wichtigste in ihrem Leben, weißt du das?«
»Ja, das weiß ich. Und sie ist meine beste Freundin.« Sybil atmete erleichtert auf. Sie hätte das fast vergessen, weil ihre Mutter sich wie eine Fremde benahm, doch jetzt erinnerte sie sich wieder daran und fühlte sich gleich viel besser.
Vor der Kabine 1911 standen zwei Wachen mit Gewehren. Sybil strich sich die braunen Locken aus den Augen und befeuchtete ihre Lippen, als Avel sie zur Tür führte und auf den Knopf der Sprechanlage drückte.
»Mikael? Hier ist Avel Harper. Ich habe Sybil mitgebracht, genau wie ich versprochen hatte.«
»Nur einen Moment noch«, antwortete jemand von drinnen.
Diese Stimme. Sybil spürte, wie ihr plötzlich die Knie weich wurden. Wo hatte sie die Stimme schon einmal gehört? Und ganz tief in ihrem Innern war ihr, als hätte sie diese Stimme immer schon gekannt.
Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür, und ein kleiner Junge mit schwarzem lockigem Haar und großen braunen Augen blickte sie an. Er war in eine limonengrüne Robe gekleidet, und sein Gesicht zeigte ein scheues Lächeln. Sybil zuckte innerlich zusammen. Sie kannte ihn. Sie hatte ihn in Hunderten ihrer merkwürdigen Träume gesehen.
»Mikael«, sagte Avel fröhlich, »das hier ist Sybil Eloel. Sie ist acht Jahre alt und wohnt am Ende des Flurs in Kabine 1901. Sybil, das ist Mikael.«
»Hallo«, sagte Mikael und formte mit seinen Händen das Zeichen des heiligen Dreiecks.
Sybil fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie sah ihn so, wie er in ein paar Jahren sein würde; sie wußte, daß sein Kinn breiter und sein Blick härter werden würde, und sie fragte sich, was die harten Linien um seinen Mund hervorrufen würde. »Hallo.« Ihre Erwiderung kam leiser heraus, als sie beabsichtigt hatte. Dann machte auch sie das Zeichen des Dreiecks.
»Komm herein. Ich habe Spiele hier, und auch Süßigkeiten.«
Mikael ging quer durch das Zimmer, um eine Schale mit Bonbons aufzuheben, die neben seinem Bett auf dem
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