Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
selten so, wie es auf den ersten Blick erscheint.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das zum Beispiel«, erwiderte er und deutete zu den feiernden Menschen hinunter. »Das Wasser hier ist verseucht. Die Frauen müssen jeden Tag drei Meilen weit gehen, um einen Eimer Wasser zu holen. Und der Bürgermeister wurde letzte Woche ermordet, weil er etwas zu enge … ›Kontakte‹ zur Frau seines Bruders pflegte.«
Rachel grinste und lehnte sich auf die Ellbogen zurück. Der Wind blies ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht. Sie strich sie zurück, trank einen Schluck Wein und genoß das Anisaroma. »Was für reizende Probleme.«
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Reizend? Sie haben wirklich eine ungewöhnliche Art, die Dinge zu betrachten. Was sagten Sie, wo Sie herkommen?«
»Ich weiß nicht, wo es von diesem Ort aus betrachtet liegt. Wissen Sie, ich glaube, ich träume das alles hier. Es war Nacht, als ich fortging. Die Korridore des Schiffs waren fast völlig verlassen.«
»Ein Traum?« Er zog die buschigen blonden Augenbrauen hoch. »Nun, das Wichtigste ist, daß Sie glücklich sind. Genießen Sie es, Rachel.«
»Ja, das habe ich vor.« Rachels Lächeln schwand. »Denn die Welt, aus der ich komme, ist voller Schrecken.«
Ein kräftiger Windstoß überschüttete sie mit einem Hagel feiner Sandkörner. Beide hoben die Arme vors Gesicht, um sich zu schützen. Die Zweige über ihnen knarrten wie rostige Türangeln.
»Wieso schrecklich?« fragte er, als der Wind sich wieder beruhigt hatte.
»Erfüllt von Trauer und Zwietracht.«
Das rauhe Lachen einer Frau drang vom Grill herüber. Hasmonaean streckte sich der Länge nach aus und stützte den Kopf in die Hand. »Ja, Zwietracht ist immer der größte Feind, der Satan in seiner reinsten Form. Das Land der Wahrheit kennt keine Schatten, denn es ist von unermeßlichem Licht erfüllt. Doch an den Rändern der Wahrheit herrscht dunkles, grenzenloses Chaos. Kennen Sie die Schriften das Basilides?«
Er rückte ein wenig zur Seite, um Rachel besser anschauen zu können, und seine Augen leuchteten voller Wärme. Merkwürdig, dachte Rachel, daß Träume immer Menschen heraufbeschworen, in die man sich leicht verlieben konnte. Der Blick dieses stattlichen Mannes ließ sie wohlig erschauern. Aber vielleicht war genau das ja auch der Grund, warum sie diesen Traum hatte – um ihr zu helfen, den Kummer um Shadrach zu lindern. Jedenfalls war sie bereit, sich ganz den angenehmen Gefühlen hinzugeben.
»Ich kenne die Schriften des Basilides nicht genau, doch seine Vorstellung der Schatten erinnert mich an etwas, das mir vertrauter ist. Das Reshimu. Haben Sie davon gehört? Leider weiß ich nicht allzuviel darüber.«
»Sie meinen die Vorstellung, daß die Kräfte des Bösen von Gott selbst stammen?«
»Ja«, erwiderte Rachel eifrig. »Könnten Sie mir das erklären? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstanden habe.«
»Ich kann es versuchen. Aber unterbrechen Sie mich, wenn ich Sie langweile.«
»Ich bezweifle, daß mich ein Gespräch darüber jemals langweilen könnte. Dafür ist das Thema zu wichtig.«
»Wieso meinen Sie das?«
»Weil ich glaube, daß das Leid der Schlüssel zu allem ist.«
Hasmonaean nickte nachdenklich. »Ja, ich glaube, da haben Sie recht. Also gut, die Geschichte wird folgendermaßen erzählt. Am Anfang gab es nur das Licht – Gott, wenn Sie so wollen. Das Licht trennte einen Teil von sich selbst ab und hinterließ dabei die Leere; einen leeren Raum, in dem sich die Schöpfung vollziehen konnte. Doch das Licht konnte nie wieder in diesen Raum eindringen.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Denn andernfalls würde das Licht wieder eins werden. Können Sie mir soweit folgen?«
»Die Dichotomie zwischen Gott und Nicht-Gott würde aufgehoben, und alles würde wieder zur Einheit verschmelzen. Ja, das verstehe ich. Fahren Sie fort.«
»Innerhalb der Leere verblieb ein Rückstand des Lichts, so wie der Duft eines Parfumes der Flasche noch lange anhaftet, auch wenn sie schon längst geleert ist. Und dieser Rückstand, das Reshimu, ist die Quelle des Bösen, denn es besitzt nur eine Teilrealität.«
Rachel trank einen Schluck Wein. Ihr Kopf fühlte sich leicht und leer an, und der Alkohol schien ihren Blick schärfer zu machen. Der türkisfarbene Himmel stand jetzt in scharfem Kontrast zum azurblauen Ozean. Sie rollte sich auf die Seite, näher zu ihm hin. Ihre Gesichter berührten sich jetzt beinahe.
»Das habe ich nicht verstanden. Wieso ist es
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