Die Gamnma Option
ihre Fragen nicht alle auf einmal beantwortet hatte, weil er befürchtete, sie wäre nicht mehr da, wenn er von einem seiner Streifzüge zurückkam, würde ihn nicht mehr brauchen. Evira hätte ihm vielleicht gesagt, daß er sich keine Sorgen machen müsse, doch das hätte auch nichts geändert. Im Leben des Jungen gab es so etwas wie Vertrauen nicht. Also beruhte ihre seltsame Beziehung auch weiterhin auf Bedürfnissen, die zwar völlig unterschiedlich waren, im Augenblick aber stark genug, daß sie zusammenblieben.
Sie sah nun aus dem Fenster; allzu lange konnte es bis zu seiner Rückkehr nicht mehr dauern. Bislang hatte er sie mit mehreren hastig gezeichneten Karten des Königlichen Palasts versehen. Er hatte die verschiedenen Teile des Gebäudes auf grauer Pappe dargestellt und im Stil seiner Comic-Hefte übertrieben ausgemalt. Um sich ein Bild vom gesamten Palast und dem umliegenden Gelände zu verschaffen, mußte Evira die Pappkartons nur wie ein Puzzle zusammenlegen. Es handelte sich um ein gewaltiges Gebäude aus Stein und weißem Marmor, das der Schah vor kaum zwanzig Jahren hatte errichten lassen. Der Palast war von einer über vier Meter hohen Außenmauer umgeben, die auch eine Schule, die Kaserne des Wachpersonals und einen älteren Palast umschloß, der nach der Errichtung des neuen zu einem Bürogebäude umfunktioniert worden war. Der Haupteingang befand sich in der Vordermauer und war nur über eine Auffahrt erreichbar, die sich durch einen hügeligen Garten wand; damit sollte verhindert werden, daß die Tore eingerammt werden konnten. In der nördlichen Mauer, in der Nähe der Schule, befand sich ein Dienstboteneingang, und in der südlichen, in der Nähe der Kaserne, einer für das Wachpersonal.
Das Innere des Komplexes war eigens angelegt worden, um dort rauschende Feste abzuhalten. Die Vordertür öffnete sich zu einem riesigen, sich über zwei Stockwerke erhebenden Ballsaal. Ein Dienstboteneingang auf der Nordseite öffnete sich zur Küche, und zwischen Küche und Ballsaal lag ein großer Speiseraum. Die Schlafzimmer im ersten Stock hatte man in getrennten Flügeln für Kinder und Erwachsene untergebracht, wobei die der Kinder den östlichen und die der Erwachsenen den südlichen Teil beanspruchten.
Allerdings verrieten ihr die Zeichnungen nicht, wie man überhaupt in den Palast eindringen konnte. Dabei würde sie sich wieder auf Kourosh verlassen müssen, wie auch bei dem Problem, herauszufinden, wann der General sich im Palast aufhielt.
Da Eviras Verletzungen schon zum größten Teil abgeheilt waren und sie während dieser langen Stunden nicht mehr soviel Schlaf brauchte, langweilte sie sich bald. Sie griff nach einem von Kourosh' Comic-Heften und blätterte darin, erstaunt darüber, daß solche Hefte die Kinder aller möglichen Kulturen ansprachen. Sie las das Heft durch und wollte es gerade wieder schließen, als ihr etwas auffiel: ein Stempel des Ladens, in dem es gekauft worden war – Steimatzky, die größte Buchhandelskette in Israel. Seltsam. So unbedeutend diese Beobachtung auch schien, hatte Evira doch schon vor langer Zeit gelernt, daß auch die kleinste Abweichung von der Norm wichtig sein konnte. Sie sah alle Hefte durch und stellte fest, daß es sich um keinen Ausnahmefall handelte. Ein jedes Heft war in der Steimatzky-Kette erstanden worden.
Kourosh platzte hinein, während sie die Comics noch inspizierte, und sie blickte verlegen zu ihm hoch, als hätte sie seine Privatsphäre verletzt.
»Superman ist mein Lieblingsheld«, sagte er, und sie bemerkte, daß er ein fest verschnürtes Päckchen unter dem Arm trug. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
»Hoffentlich eine angenehme.«
»Warte nur, bis du es siehst!« Er legte das Päckchen auf zwei Kisten und schickte sich an, die Kordel zu lösen.
»Kourosh«, sagte Evira zu ihm. »Wer hat dir Englisch beigebracht?«
Stirnrunzelnd drehte er sich zu ihr um. »Die Studenten, wie ich es dir gesagt habe.«
»Waren das dieselben Studenten, die dir die Comic-Hefte gegeben haben?«
»Ja. Ist das wichtig?«
»Nein. Nur … nun, ich spreche auch Englisch, und ich könnte dort weitermachen, wo sie aufgehört haben.«
Aufgeregt ließ er die Kordel Kordel sein. »Könntest du das wirklich?«
»Es wäre mir ein Vergnügen. Das ist das mindeste, das ich tun kann, nach allem, was du für mich getan hast.«
Er schaute plötzlich traurig drein. »Ich vermisse sie.«
»Wen?«
»Die Studenten.«
»Die, die in der Plastikfabrik
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