Die Gang: Roman (German Edition)

herum und sehe mir die Welt an.«
    »Und vor was und wem läufst du davon?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf, dass ich vor etwas davonlaufe?«
    »Der verletzte und gehetzte Ausdruck deiner Augen.«
    »Du spinnst.«
    »Ich habe alles im Himmel und auf Erden gesehen. Und vieles von der Hölle. Wieso sollte ich deshalb verrückt sein?«
    »Das stammt von Poe, oder?«
    »Von mir so zusammengestoppelt. Willst du mir nicht dein Herz ausschütten?«
    Sie sah nicht ein, wieso sie Poppinsack belügen sollte.
    »Mein Vater starb. Meine Mutter hatte einen Verlobten, der sich zu sehr für mich interessierte. Ich bin abgehauen. Ende der Geschichte.«
    »Und wie ist es dir auf der Landstraße ergangen?«
    »Ich habe bis jetzt überlebt«, sagte Robin. »Was ist mit deiner Geschichte?«
    »Um es noch schneller auf den Punkt zu bringen als du: Ich bin ein Bücher-Penner.«
    »Bist du wirklich ein Professor?«
    »Ich lehre nicht mehr. Es ist wahrhaftig sehr viel angenehmer, seine Perlen zu horten, statt sie vor die Säue zu werfen.«
    »Also hast du aufgehört zu unterrichten und liest jetzt nur noch?«
    Er nickte und trank seinen Tee mit Rum.
    »Wie lange bist du schon in Boleta Bay?«
    »Ewig und einen Tag.«
    »Hast du keine Angst vor den Trolljägern?«
    Er sah Robin an und hob seine dichten grauen Augenbrauen. »Hast du keine Angst vor den Trollen? «
    »Wir sind Trolle, oder? Ich meine, die Kids würden das jedenfalls denken.«
    »Es gibt Trolle und Trolle«, sagte Poppinsack und hörte sich ziemlich nach Robert Newton an, der Long John Silver spielt. »Es gibt harmlose und so welche, die das nicht sind. Poppinsack könnte Geschichten erzählen, die so schrecklich sind, dass einer Maid das Blut gefriert.«
    Robin zog ihm eine Grimasse. »Willst du mir Angst einjagen oder was?«
    »Du bist eine reisende Bardin und Sängerin«, sagte er und ließ den Piratentonfall wieder sein. »Du bist ’n schlaues Mädchen, aber im Grunde bist du ein Kind und weißt nicht, worum es hier geht.«
    »Vielleicht weiß ich mehr, als du denkst. Ich bin ziemlich weit rumgekommen.«
    »Und warst du jemals ein Spion Gottes am Hof der Verdammten?«
    »Was immer das bedeuten mag«, murmelte sie.
    »Heb dich hinweg von hier! Verschwinde, zieh weiter, trampe nach Frisco oder L. A., spring in ’nen Bus nach Palookaville.« Und mit einer Stimme, der plötzlich jedes aufgesetzte Gehabe fehlte, sagte er: »Mach, dass du hier wegkommst, Robin. Wenn du hierbleibst, könnte es passieren, dass du einfach verschwindest.«
    Sie starrte ihn an.
    »Du wirst ganz plötzlich nicht mehr da sein.«
    »Du machst mir wirklich Angst.«
    »Der Singvogel, der heute davonfliegt, ist morgen keine tote Ente.«
    »Wenn es hier so gefährlich ist«, fragte sie, »warum bleibst du dann?«
    »Ja, warum? Vielleicht, weil die Seejungfrauen für mich singen.« Poppinsack trank seinen Tee aus. »Lebe wohl«, sagte er.
    Robin nickte. »Mein Abgangsstichwort?«, fragte sie.
    »Ich wusste deine Gesellschaft zu schätzen. Hör auf meine Warnung und verschwinde.«
    »Das werde ich wohl tun«, sagte sie. »An diesem Ort hier läuft es mir eiskalt den Rücken runter, und du bist ungefähr der Vierte, der mich warnt.« Sie trank den Rest des Tees, setzte den Becher ab und schloss ihren Banjokasten. »Danke für den Tee«, sagte sie und stand auf.
    »Und ich danke dir für das Lied.«
    Sie winkte, drehte sich um und kletterte die Düne neben Poppinsacks Schlafplatz hinauf.
    In einem Coffeeshop zwei Blocks östlich der Promenade aß Robin ihr Frühstück, bestehend aus zwei Eiern, Würstchen, Bratkartoffeln und Toast. Während sie damit beschäftigt war, wanderten ihre Gedanken zu dem merkwürdigen alten Mann und seinen Warnungen zurück. Harmlose Trolle und andere. Leute, die verschwinden. Der Hof der Verdammten.
    Gruseliges Zeug. Er könnte es aber auch erfunden haben, einfach nur, um sie davonzujagen. Vielleicht fürchtete er, dass sie sein Revier gefährdete oder so. Vielleicht machte es ihm einfach Spaß, Leuten Angst einzujagen. Aber er hatte selbst ein wenig ängstlich gewirkt. Vielleicht glaubte er ja selbst an das, was er ihr erzählte, aber trotzdem war nichts davon wahr. Immerhin war er ein Säufer.
    Ob die Geschichten nun stimmten oder nicht, Robins Erfahrungen mit den Trollen in der vergangenen Nacht waren beunruhigend genug gewesen, und die Kids stellten eine wirkliche Gefahr dar.
    Grund genug, aus dieser Stadt abzuhauen.
    Als sie fertig gegessen hatte, nahm sie