Die Gauklerin von Kaltenberg
bei den Schultern. »Jeder Ritter hat seine Lieb schaften. Ihm wird niemand einen Vorwurf machen. Aber an dir wird es hängenbleiben. Zum Teufel, Anna, denk doch an die Zu kunft! Wenn du erst einmal als Hure gebrandmarkt bist, bist du so gut wie rechtlos!«
Tausendmalhatte sie sich mit diesem Gedanken gequält. Na türlich hatte sie Angst. Wer sich selbst aus der Herde des Herrn ausschloss, konnte auch keine Hilfe erwarten, das predigte der Pfarrer fast jeden Sonntag. Anna sah ihren Bruder ernst an. »Ich will euch keine Schande machen. Aber ich kann nicht anders.«
Er seufzte verzweifelt. »Lass mich mit den Eltern reden! Viel leicht muss es ja nicht gerade Kilian sein. Aber mach dir keine gro ßen Hoffnungen – heiraten wirst du müssen. Und jetzt komm«, sagte er liebevoll. »Um diese Zeit sollte man im Haus sein.«
»Lass mich noch einen Augenblick allein.« Er zögerte, und Anna umarmte ihn. »Ich komme ja gleich.«
Sie sah ihm nach, wie er zum Dorf zurücklief. Wenn jemand ihre Eltern besänftigen konnte, dann er. Langsam trat sie zwischen den hagelgeschlagenen Obstbäumen hinaus auf die Wiese. Hinter ihr erhoben sich der Burgberg und die Siedlung, unterhalb davon floss die Paar. Zum Ammersee hin durchbrachen moorige Schilfland schaften mit kleinen Burgen die Wälder, und bei schönem Wetter sah man am Horizont die Berge. Die meisten Menschen hatten Angst vor der Dämmerung, aber sie hatte sich hier schon immer sicher gefühlt. Mit diesem Ort war sie verbunden. Was immer ge schah, hier würde sie sich beschützt fühlen.
Sie musste an den alten Raunachtbrauch denken: Wenn ein Mädchen zur Wintersonnwende einen Baum umarmte, verriet das nächste Hundegebell die Richtung, aus der ihr zukünftiger Ehemann kommen würde. Anna beschloss, dass sie nicht die Zeit hatte, bis Sonnwend zu warten. Mit beiden Händen umfasste sie den knorrigen Stamm.
Die Schafe des alten Hauser blökten in ihrem Pferch am Ende der Dorfstraße. Von den ersten gepflügten Feldern wehte der Ge ruch der feuchten Schollen herüber und mischte sich mit dem süß lichen Aroma faulender Holzäpfel. Die Kälte kroch ihre nackten Füße hinauf. Ungeduldig rieb sie das Gesicht an ihrem Ärmel. Da hörte sie den Hund.
Eswar ein kurzes, wütendes Bellen. Sie lauschte mit angehal tenem Atem. Der Hund gab wieder Laut. Sie hatte sich nicht ge täuscht: Es kam vom Hügel herab – aus der Richtung der Burg!
Annas Herz schlug schneller. Ein weiterer Hund bellte. Irgend wo donnerte leiser Hufschlag. Nun hörte sie auch das tiefe Organ des schwarzen Schäferhundes vom Herrenhof. Wachsam öffnete sie die Augen und sah zurück zum Dorf.
Von überall her bellten nun Hunde. Hufschlag näherte sich, aber es war nicht nur ein Pferd, wie sie zuerst dachte. Es mussten mehr als zwanzig sein. Heisere Rufe aus Männerkehlen, das Klat schen einer Peitsche. Dort, wo die Straße nach Landsberg ab zweigte, brachen Reiter aus dem Wald. Etwas flog zischend auf das Strohdach der ersten Kate. Eine Stichflamme loderte auf – es war ein brennender Pfeil!
Die Österreicher!, fuhr es Anna durch den Kopf. Gott steh uns bei!
Seit Tagen belagerten österreichische und schwäbische Ritter die Stadt Landsberg. Wenn sie ausschwärmten, konnte das nur eins bedeuten: Landsberg war gefallen, und nun plünderten die Sieger die umliegenden Dörfer – schon allein um zu dem Sold zu kommen, den ihnen ihre Herren nach der schlechten Ernte dieses Jahr wohl kaum zahlen konnten. Und Martin würde ihnen direkt entgegenlaufen!
Anna raffte die Röcke und sprang über den Zaun, der die Burg siedlung begrenzte. Ein Holunderzweig streifte ihren Nacken, wie gelähmt blieb sie unter dem Strauch stehen. Erst jetzt fiel ihr ein, was ihr Bruder ihr von Kindheit an eingeschärft hatte: dass bei einer Plünderung die Wälder der einzig sichere Ort waren.
»Martin!«, schrie sie verzweifelt. Sie wollte ihm nach, aber im selben Moment duckte sie sich in nackter Angst wieder unter den Busch.
Dort, wo sie vorhin gelaufen waren, sprengten Ritter auf riesigen Pferden heran. Blutspuren und Schlamm zogen sich über die langenWaffenröcke, Rüstungen glänzten schemenhaft im Rauch. Einer donnerte so nahe an ihr vorbei, dass sein langes Hemd sie streifte. Die enge Straße entlang ritten sie alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Brennende Pfeile flogen durch die Luft, überall stank es nach Qualm. In Panik flohen die Menschen ziellos durcheinander. Einige liefen auf den Waldrand zu. Annas
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