Die Gauklerin von Kaltenberg
kämpfte mit den Tränen. Dort unten an der Paar waren sie als Kinder mit nackten Beinen durchs Wasser gelaufen. Im Wald stück dahinter hatte Martin ihr Mooshäuschen gebaut und sie beim Hüten der Eichelmastschweine auf seinen Schultern reiten lassen. Sie erinnerte sich an den süßen Duft der Walderdbeeren, das Spiel von Licht und Schatten auf seinem Gesicht. Mit einem erstickten Laut presste sie die Hand auf den Mund. Ihn nie mehr wiederzusehen war unerträglich.
Ulrich von Rohrbach hatte noch keine Entscheidung getroffen, was mit ihr werden sollte. Anna wünschte, er wäre hier, um sie festzuhalten. Aber Ulrich war schon in aller Frühe nochmals ins Dorf geritten. Die Menschen brauchten ihn.
Jemand legte den Arm um sie. »Komm«, sagte Regina leise. »Die Obermagd wird ungeduldig.«
Es war tröstlich, ihre Freundin auf der Burg getroffen zu haben. Reginaund sie hatten so gut wie keine Geheimnisse voreinander. Die Mädchen stiegen die Stufen hinab. Schon im steinernen Trep penhaus hörten sie Waffen klirren und raue Männerstimmen, die Befehle brüllten. Im Unterstock des Torhauses, im Schatten des Bergfrieds, befand sich die Waffenkammer. Die eisenbeschlagene Eichentür war offen. Knechte mit Schilden und Spießen drängten sich an ihnen vorbei in den Hof. Offenbar rechnete man mit dem Schlimmsten.
Auch als sie in den weitläufigen Hof traten, herrschte Betrieb: Pferde wieherten, der Schreiner sägte, und Wäscherinnen schlepp ten ihre Flechtkörbe ins Haus. Hier hatte sich Anna schon immer wohl gefühlt. Auf der linken Seite in den hölzernen Vor bauten bei Gesindehaus und Ställen hatten Handwerker ihre Buden. Auch ihr Vater arbeitete dort an den Tagen, die er seinem Herrn schul dete. Sie liebte das Kommen und Gehen, die Aufregung, wenn ein weitgereister Gast oder ein Gaukler mit Neuigkeiten kam. Dann trugen die Reitknechte ihre prachtvollen Tuniken im Schwarz weiß der Rohrbacher, und Ulrich ritt, in glänzende Stoffe geklei det, aus. Die erregenden Töne der Fanfaren oder die Rufe der Jagd gesellschaften waren bis in die Bauernkaten zu hören. Unter den riesigen Toren und Türmen und umgeben von dicken Steinmau ern fühlte sich Anna beschützt. Aufatmend sah sie an den mit Efeu und Heckenrosen bewachsenen Galerien des Herrenhauses – des Palas – hinauf. Als Kinder hatten sie unter den Außentreppen Ver stecken gespielt. Und ganz hinten, unter der Galerie, gab es eine verwitterte Holztür, die vom Hof aus nicht zu sehen war. Anna liebte diesen Winkel, wo Ulrich sie oft heimlich küsste und ihr Zärtlichkeiten zuflüsterte. Zum ersten Mal seit gestern wurde ihr etwas wärmer.
»Der Angriff hat uns hier genauso überrascht wie euch. Bevor Ulrich seine Waffenknechte zusammengerufen hatte, war schon alles vorbei. Meiner Mutter ist natürlich nichts geschehen«, plauderte Regina, um sie aufzumuntern. »Die alte Hexe will nicht ein malein Haufen plündernder Soldknechte schänden. Und der alte Seyfrid ist davongekommen«, erzählte sie, da sie wusste, dass Anna den Alten mochte. Seit ihn letztes Jahr das Antoniusfieber gepackt hatte, galt er als närrisch und wurde mit milden Gaben durchgefüttert. »Hat sich irgendwo verkrochen und sich tot gestellt wie ein Käfer.«
Die Obermagd Gertraut sah ihnen vom Brunnen her entgegen, und unwillkürlich richteten beide Mädchen ihre Kleider. Zum Arbeiten hatten sie ein Leintuch in den Gürtel gesteckt, um die Übergewänder zu schützen. Regina hatte noch ein Kopftuch im Nacken über dem braunen Haar geknotet. Der Brunnen war sonst der Ort, wo die Frauen lachend Neuigkeiten austauschten. Aber heute herrschte eine gelähmte Stille. Nur die alte Gertraut hängte sich an die Kette, um den Eimer aus der Tiefe zu holen.
»He, träum nicht, lang hin!«, befahl die Alte. In der Nacht hatte Annas unterdrücktes Weinen sie geweckt, und sie hatte das Mäd chen böse angefahren, ruhig zu sein. Jetzt kratzte sie sich an einem nässenden Ausschlag, und ihre Stimme klang verbittert. »Alle haben jemanden verloren. War vor zwanzig Jahren auch nicht an ders, als die Augsburger kamen, das Dorf niederbrannten und die Burg zerstörten.«
»Sie haben die Burg zerstört?« Anna half, den Eimer auf den Brunnenrand zu wuchten, und sah sie erschrocken über den Rand hinweg an. Gestern waren ihr die Mauern unüberwindlich er schienen.
»Was man so zerstören nennt. Die Holzbauten waren hin, Bre schen in der Mauer.« Gertraut schob eine dünne graue Strähne zwischen Kinntuch und Schleier
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