Die Gauklerin von Kaltenberg
sie, erstickte jedes andere Gefühl, für einen Moment selbst den Schmerz.
Lauf!, drängte Martins Stimme in ihrem Inneren. Auf einmal waren ihre Gedanken so klar, dass es sie erschreckte. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Mit wild schlagendem Herzen schloss sie die Augen. Dann sprang sie mitten in die rasende Herde auf die Straße.
Dornen zerrten an ihrem Kleid, sie befreite sich und rannte wei ter. Sie spürte den starken Rindergeruch, der zerstampfte Boden zitterte unter den Hufen. Das Auf und Ab der gescheckten Leiber nahm ihr die Sicht, sie rannte blindlings mit, versuchte nur auf den Beinen zu bleiben. Mit ungelenken Sprüngen galoppierten die schweren Tiere an ihr vorbei. Wie durch ein Wunder war sie nicht niedergetrampelt worden. Ohne sich umzusehen, hetzte sie die steile Straße hinauf – in Richtung des einzigen Ortes, wo sie viel leicht sicher war. Wenn sie die letzten hundert Schritte dort hinauf überlebte.
Rechts von ihr ragte der Umriss des Bergfrieds zwischen den Bäumen hervor. Anna stolperte, mit pfeifendem Atem kämpfte sieum ihr Gleichgewicht. Sie hatte die Burg fast erreicht, da hörte sie Hufschlag hinter sich. Mit fliegendem Atem fuhr sie herum.
Ein Ritter auf einem Rappen hatte sie erreicht. Mit einer Hand stemmte er die gespannte Armbrust aufs Knie. Er beherrschte das unruhige Pferd sicher mit der Kraft seiner Schenkel. Der Wind zerrte an dem schwarzen Waffenrock und meißelte den schlan ken Körper heraus. Zwei oder drei Knechte, die ihm gefolgt wa ren, wichen vor seiner bloßen Handbewegung scheu zurück. Die Augen hinter dem Visier trafen ihre.
Plötzlich nahm er den Helm ab. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er schulterlange schwarze Locken aus dem Gesicht, die schweißfeucht auf seiner Stirn klebten. Und in diesem Augenblick prägte sich Anna sein Gesicht unlöschbar ein.
Die ausdrucksstarken Lippen unter dem ausrasierten Vollbart, die scharfen Falten um seine Nase verrieten Anspannung – oder mühsam beherrschtes Entsetzen? Die nachtdunklen Augen des jungen Ritters sahen sie an. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihm die ser eine Blick schon alles über sie verraten, was es zu sagen gab.
»Komm her!«, befahl er. Seine melodische, von einem dunklen Akzent gefärbte Stimme fesselte Anna wider Willen. Da bemerkte sie das Blut an seinen Handschuhen. Er hielt die Armbrust erho ben, so dass er jederzeit schießen konnte. Erst jetzt begriff sie: Er war nicht hier, um ihr zu helfen. Er war einer der Plünderer!
Anna zitterte vor Hass. Sein ritterliches Äußeres war nichts als Blendwerk. Er würde sie schänden und dann töten, und niemand würde sich darum kümmern – im Gegenteil, er würde damit noch vor seinen Männern prahlen. Das Gefühl der völligen Hilflosigkeit war unerträglich.
»Fahrt zur Hölle!«, kreischte sie. Halb verrückt vor Angst hörte sie sich schreien: »Ihr sollt verdammt sein für das, was Ihr tut!«
Die Worte klangen fremd in ihren Ohren. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst sie ausgesprochen hatte. Eiskalte Schauer jagten über ihre schweißüberströmte Haut.
Derschwarzhaarige Ritter hatte überrascht die Waffe sinken lassen. Anna hielt sich nicht mit der Frage auf, warum er nicht schoss. Sie begann zu rennen.
Er rief etwas, sie hörte nicht hin. Die an Seilen aufgehängte Brücke zur Burg war bereits für die Verteidiger heruntergelassen. Anna erwartete, das Zischen des Armbrustbolzens zu hören, dann den tödlichen Schmerz im Rücken. Nichts geschah.
Sie hetzte über die Zugbrücke, ihre Schritte klangen hohl auf den Holzbrettern. Dumpf prallte ihr Körper gegen das Tor. Sie spürte kaum noch, wie ein Splitter ihre Wange aufriss und salzige Tränen darin brannten. Mit den Fäusten hämmerte sie gegen das schwere Eichenholz.
2
Als Anna am nächsten Morgen vom Torhaus hinabsah, schlug sich klamme Feuchtigkeit auf ihren Wangen nieder. Ihr Kopf fühlte sich dumpf an, ihr Hals war wie zusammengeschnürt. In den feuchten Kleidern fror sie erbärmlich, und ihre Haut war völ lig zerschunden. Beißender Qualm hing in der Luft über den aus gebrannten Häusern. Im Nieselregen waren die Menschen kaum zu erahnen, die Leichen zu der hastig ausgehobenen Grube schleiften. Sie arbeiteten fieberhaft, voller Angst, die feindlichen Ritter könnten zurückkommen. Vergeblich versuchte Anna auf den zerstampften Feldern ihre Eltern und ihre Freunde zu erken nen. Sie wusste noch nicht einmal, wer von ihnen überhaupt noch lebte.
Sie
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