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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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«Du kannst nicht in die Zukunft sehen, niemand in unserer Familie kann das. Es sind nur deine Ängste, die dich quälen. Bitte, Mutter, steh jetzt auf. Du solltest etwas essen, hattest ja den ganzen Tag noch nichts. David, geh in die Küche und hol eine Schüssel Milchbrei.»
    «Nein, er soll bleiben.» Unerwartet rasch hatte sich Marthe-Marie erhoben und begann in ihrer Truhe zu wühlen.
    «David muss mit mir in den Garten. Du kennst doch dort jeden Winkel, mein Junge. Zeig mir ein Versteck für unsere Ersparnisse.» Sie zog die Lederschatulle aus der Truhe. «Die schwarzen Reiter werden nach Stuttgart kommen, die sollen unser Geld nicht finden.»
    David warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Agnes nickte.
    «Nun komm. In diesem Tumult wird keiner auf uns achten.» Marthe-Marie nahm den Jungen bei der Hand. Sie wirkte wieder gänzlich klar. «Zeig mir dein bestes Versteck.»
    Agnes folgte den beiden ins Stiegenhaus. Sie sah, wie ihre Mutter auf dem Absatz stehen blieb. Marthe-Marie blickte einen Augenblick lang auf die vielen Menschen hinab, die von links nach rechts, von oben nach unten rannten, dann gab sie sich einen Ruck und eilte los, so überhastet, dass sie auf der vierten oder fünften Stufe unversehens strauchelte, kopfüber die steile Stiege nach unten stürzte, sich einmal überschlug und rücklings im unteren Stockwerk liegen blieb. Mit einem Schlag herrschte Totenstille im Treppenhaus. Marthe-Marie rührte sich nicht.
    Agnes schrie auf. «Mutter!»
    Dann stürzte sie ihr nach. Ein alter Knecht kniete bereits neben der Verunglückten und befühlte Handgelenk und Stirn.
    «Sie lebt. Tragen wir sie vorsichtig in ihre Kammer.»
    Kurz darauf lag Marthe-Marie auf dem Bett, doch ihr Atem ging merkwürdig kurz und flach. Agnes öffnete ihr das Mieder, dann bat sie den Knecht, den Hofarzt zu holen.
    «Der Herr Medicus wird keine Zeit haben. Die Herrschaften sind doch alle beim Packen.»
    «Dann gehe ich eben selbst. Bleib bitte bei ihr.»
    Endlich fand sie Doctor Schopf in der Hofapotheke. Es bedurfte eines lautstarken Zornesausbruchs von ihrer Seite, bis sich der alte Hofarzt endlich bequemte, nach ihrer Mutter zu sehen. Unwillig folgte er ihr die steilen Treppen hinauf, murrte, er habe schließlich in dieser Lage anderes zu tun, als der Dienerschaft Pflästerchen aufzulegen. Als er jedoch Marthe-Marie erblickte, wurde er still und begann sie gründlich und mit ernster Miene zu untersuchen.
    «Äußerst kurios.» Er kratzte sich sein schütteres Haar. «Von dengeprellten Rippen abgesehen, hat sie wohl keine ernsthaften Verletzungen, keine Brüche. Auch deutet nichts auf innere Blutungen. Aber diese graue Gesichtsfarbe, der kalte Schweiß, der kurze Atem – das gefällt mir nicht. War sie denn in letzter Zeit krank?»
    «Nein, nichts. Das heißt, sie war vor dem Sturz auf eine sonderbare Art außer sich, hatte Albträume, dann im wachen Zustand Gesichte. Es ist, weil – ihre beiden Söhne sind im Krieg, und gestern kam die Nachricht von dem bevorstehenden Gefecht bei Nördlingen.»
    «Nun, dann könnte es auch ein Schockzustand sein.» Er kramte in seiner Tasche und holte ein Fläschchen heraus. «Ich gebe ihr etwas zur Beruhigung. Im Allgemeinen klingen Schockwirkungen nach einigen Stunden wieder ab. Gebt ihr etwa jede Stunde fünf Tropfen hiervon auf die Zunge. Ich sehe gegen Abend nochmal nach ihr. Und lasst viel frische Luft herein.»
    «Wie soll ich Euch nur danken, Doctor Schopf?»
    Der Alte winkte ab. «Wüsste ich nicht, wie viel Prinzessin Antonia an Euch gelegen ist, so wäre ich sicher nicht gekommen.»
    Die nächsten Stunden saßen David und Agnes stumm am Bettrand, verabreichten Marthe-Marie die Medizin und beobachteten, ob sich irgendeine Besserung zeigte. Es tat sich nichts.
    Erst als es dämmerte, vermeinte Agnes ein Zucken ihrer Augenlider zu erkennen. Ging nicht auch Marthe-Maries Atem gleichmäßiger? Sie beugte sich über ihr Gesicht.
    «Mutter? Hörst du mich? Wenn du mich hören kannst, gib mir ein Zeichen.»
    Agnes nahm ihre Hand, um zu erspüren, ob sich die Finger bewegten. Da öffnete Marthe-Marie die Augen, die rotgerändert waren, mit verschleiertem Blick.
    «Was machst du nur für Sachen?», flüsterte Agnes. «Hast du Schmerzen? Hast du Durst? David, rasch, einen Becher Wasser vom Waschtisch. Hier, Mutter, trink. Aber vorsichtig, in ganz kleinen Schlucken.»
    Beim dritten Schluck rann das Wasser aus den Mundwinkeln. Auch hatte Marthe-Marie die Augen wieder

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