Die Gauklerin
gerade will ich herausfinden. Und wenn ich ihn tot finde, bringe ich ihn zum Bestatten hierher.»
«Hat denn das alles Sinn?»
«Wenn du jeden Tag meine Mutter auf ihrem Bett liegen sehen würdest, die Qualen in ihrem Gesicht, dann würdest du nicht so reden.»
«Schon gut, ich kümmere mich um zwei Pferde. Deinem Dickschädel ist ja ohnehin nicht beizukommen.»
An diesem Abend bat Agnes Else und ihren Sohn hinaus in den Hof. Aus dem Häuschen gegenüber drang lautes Gezeter. Dort hausten seit Ferdinands Einmarsch drei einander spinnefeinde Familien auf engstem Raum.
«Ich reite morgen früh fort. Rudolf wird mich begleiten. So lange müsst ihr auf Mutter Acht geben. Versprecht ihr mir das? Wenn alles gut geht, bin ich in ein, zwei Wochen zurück.»
Else kniff die Augen zusammen. «Was hast du vor?»
«Ich mach mich auf die Suche nach Matthes. Und nach Jakob vielleicht auch.»
«Da schwillt doch dem Bauern der Kamm – bist du jetzt übergeschnappt?» Die Warze unter Elses Nase bebte. «Weißt du, was da draußen los ist?»
«So schlimm wird es nicht sein. Das Remstal ist ganz von Kaiserlichen besetzt, die Kampfhandlungen sind vorbei.»
«Na gut, Frau Neunmalklug. Dann wünsche ich eine fröhliche Promenade. Und grüß mir den Herrn Bruder unbekannterweise.»
«Else, bitte. Ich habe lange drüber nachgedacht – es gibt keinen anderen Weg. Ich muss meiner Mutter doch helfen.»
«Und dein Junge? Denkst du an den vielleicht auch?»
«Komm mal her, David.» Agnes legte ihrem Sohn den Arm um die Schultern. Er war inzwischen fast so groß wie sie.
«Schau, du bist kein Kind mehr. Deine Ahn ist sehr krank, sie möchte nichts lieber als in Frieden sterben. Das kann sie aber nur, wenn sie weiß, was mit ihren beiden Söhnen ist. Verstehst du das?»
David nickte stumm.
«Um mich musst du keine Angst haben. Rudolf ist ja dabei, und wir werden vorsichtig sein. Ich lasse Mutter in deiner Obhut – versprichst du mir, dass du für sie sorgst, bis ich zurück bin?»
Wieder ein stummes Nicken.
«Hast du noch das Kästchen mit den Holzfiguren? Ja? Dann hol es her.»
Als David zurückkam, zog sie ein Pferdchen aus der Kiste. Die dunkelbraune Bemalung war abgegriffen.
«Erinnerst du dich, wie du als kleiner Junge damit gespielt hast? Meine Freunde bei den Gauklern haben sie mir geschenkt, als ich noch ein Kind war. Dieses Pferdchen war mir immer das Liebste. Ich werde es auf die Reise mitnehmen, als Talisman. Es wird mich zu dir zurückbringen, du wirst sehen.»
Sie verstaute die Figur in ihrer Rocktasche.
«Kannst du dich an die Zeit bei den Gauklern denn noch erinnern?», fragte er mit belegter Stimme. Agnes ahnte, dass er mit aller Kraft die aufsteigenden Tränen unterdrückte.
«Nein, nicht in aller Klarheit. Aber heute noch steigen manchmal Bilder in mir auf, da ist alles bunt und durcheinander, voller Musik und unerklärlichem Zauber. Dann sehe ich Wagen mit Pferden, Kinder, Affen und ein Kamel. Ich hatte eine Freundin, Lisbeth, die war wild wie ein Zigeunerkind. Es war wohl für mich alles recht aufregend. Und nun kommt, gehen wir wieder hinein. Zeit, schlafen zu gehen!»
Zum ersten Mal seit langem brachte sie David wieder zu Bett, betete mit ihm und wartete, bis er eingeschlafen war. Dann trat sie an das Lager ihrer Mutter.
«Hörst du mich?» Sie nahm Marthe-Maries Hände und hielt sie fest. «Ich werde einige Zeit fort sein. Ich bringe dir Matthes zurück. Und Jakob auch. Versprich mir, dass du auf mich wartest.»
In diesem Augenblick war sie fest davon überzeugt, dass sie Matthes und Jakob ausfindig machen würde. Doch es war noch etwas anderes, was sie forttrieb: Vielleicht konnte sie, nach all den Jahren, etwas über Kaspar in Erfahrung bringen. Vielleicht hätten dann ihre Träume in der Nacht ein für alle Mal ein Ende.
Marthe-Marie rührte sich nicht.
«Versprich mir, dass du auf mich wartest», wiederholte Agnes. Da glaubte sie einen leichten Händedruck zu spüren.
Else trat neben sie. «Ich habe dir einen Beutel mit Proviant gerichtet. Viel ist es leider nicht.»
«Danke.»
Sie umarmten sich, und Agnes erschrak, wie sehr ihre alte Freundin abgemagert war.
«Komm gesund wieder», flüsterte Else. «Da draußen ist es schlimmer, als du dir vorstellen magst. Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Zum Glück werde ich das Ende nicht mehr erleben.»
Im Morgengrauen erwartete Rudolf sie in den Weingärten. Durch eine Pforte in der oberen Vorstadt hatte sie unerkannt die Stadt verlassen
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