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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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drehte sie sich um und sah, dass der Ältere den Türriegel vorgelegt hatte.
    «Was soll das?» Agnes wich zurück.
    «Frag nicht so dumm.» Sein Grinsen entblößte eine Reihe breiter gelber Zähne. Er war mit zwei Schritten bei ihr, packte sie bei den Handgelenken und schob sie rückwärts gegen den Tisch. «Wenn du schreist, sticht dich mein Bruder ab.»
    Aus den Augenwinkeln sah Agnes jetzt den anderen Kerl mit einem Messer in der Hand, einem Küchenmesser, das ihr in diesem Moment so bedrohlich erschien wie ein tödlicher Degen. War es so weit? Würde ihr nun geschehen, was in diesen Kriegsjahren den Frauen allerorten tausendfach und immer wieder zugefügt wurde? Einem Eisenpanzer gleich erstarrten ihre Muskeln, dass es schmerzte.
    Von draußen krachte es gegen die Tür. «Macht sofort auf!»
    Der Untersetzte fuhr ihr mit seinen dreckigen Fingern über die Wange. «Geduld, mein Junge», rief er in Richtung Tür. «Ein halbes Stündchen nur, dann sind wir hier fertig.»
    Mit einem Knall zersplitterte die Tür. Agnes duckte sich und sprang zur Seite, ihr Angreifer fuhr herum, ein Holzscheit prallte ihm mitten ins Gesicht und ein Schwall Blut schoss aus der gebrochenen Nase. Mit einem Schrei war Andres bei dem anderen, er schlug ihm das Messer aus der Hand, um ihm gleich darauf mit einem gezielten Stoß den Dolch ins Herz zu rammen. Grausig röchelnd, die Augen ungläubig aufgerissen, sank der Mann zu Boden, unendlich langsam, dann brach sein Blick.
    «Gnade, habt Gnade», wimmerte sein Bruder. «Das war doch nur ein Scherz, ein kleiner Spaß.»
    Zur Antwort stieß Andres auch ihm den Dolch in den Leib, immer wieder, außer sich vor Raserei.
    «Andres! Hör auf!»
    Überall war Blut, auf dem Dielenboden, an ihrer Kleidung,an Tisch und Stühlen – die ganze Stube glänzte rot. Sie stürzte hinaus.
    Als ihr Herz endlich wieder ruhiger schlug, stand Andres neben ihr, die Fidel in der einen, einen prall gefüllten Beutel in der anderen Hand.
    «Das reicht als Proviant für die Reise», sagte er finster.
    «Du hättest sie nicht töten müssen.»
    «Nein. Aber ich wollte es.»
    Da näherten sich auf dem Feldweg Reiter. Andres drückte ihr die Fidel in die Hand. «Lauf, so schnell du kannst. Zu den Bäumen dort.»
    Sie flüchteten hügelaufwärts in die bewaldeten Berge, immer höher hinauf. Bald wurde der eisige Wind zum Sturm, tobte in den Wipfeln über ihnen, bis der ganze Wald zu ächzen und zu stöhnen begann. Dann kam der Schnee und fuhr ihnen mit eisigen Nadeln ins Gesicht. Agnes blieb stehen.
    «Ich kann nicht mehr!»
    «Lauf weiter, um Himmels willen», schrie Andres. «Wir müssen eine Höhle finden.»
    «Aber es wird schon dunkel.»
    «Komm schon. Hier gibt es überall Höhlen, ich weiß das.»
     
    Mit dem Schneesturm an jenem Nachmittag war endgültig der Winter eingebrochen. Die Alraunhöhle, wie Andres sie nannte, wurde zu ihrem Zuhause. Sie saßen fest in diesem großen, dunklen, kalten Loch, auch wenn Agnes es zunächst nicht hatte wahrhaben wollen.
    «Heißt das, wir werden den ganzen Winter hier verbringen?»
    Andres nickte.
    «Wir werden verhungern.»
    «Nein.»
    Die Bestimmtheit seines Tonfalls ließ sie wieder Hoffnung schöpfen. Nun, sie hatten ja noch den Proviantsack aus demHaus der verfluchten Brüder. Und gleich am ersten Morgen, nach einer schlaflosen, bitterkalten Nacht, zog Andres los, um Zweige und Moos für ein Lager zu sammeln. Es hatte nicht aufgehört zu schneien, doch unermüdlich kroch er hinaus durch den schmalen Einlass, um jedes Mal klatschnass zurückzukehren, die Arme voller Gestrüpp. Er hat etwas von einem Tier, dachte Agnes und sah wieder vor sich, wie er auf die beiden Männer losgegangen war.
    Erst als es dunkel wurde, blieb er bei ihr. Agnes hatte inzwischen herausgefunden, dass es an einer Seite der Höhle einen weiteren Gang gab, der steil nach oben führte. Von dort drang ein schwacher Lichtschein herein und frische Luft. An dieser Stelle schichtete Andres halbwegs trockene Zweige auf und schlug ein Feuer. Agnes atmete auf, als kurz darauf die ersten Flammen ihre Wärme verbreiteten. Am liebsten hätte sie sich mitten hinein gelegt, so klamm waren ihre Glieder.
    «Wenn es nicht mehr schneit», sagte der Junge, «musst du mir helfen, Holz zu sammeln. Die Glut darf nicht ausgehen, ich hab kaum noch Zunder. Außerdem   –»
    «Was?»
    «Wir könnten im Schlaf erfrieren.»
    Tatsächlich war Agnes dankbar über die Schufterei, mit der sie die nächsten Tage verbrachten,

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