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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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denn das hinderte sie, allzu viel über ihre Lage nachzudenken. Bis zu den Knien versank sie bei ihrer Suche nach Brennholz im Schnee, jeder Schritt war unendlich mühsam, und bald hatten sie den ganzen näheren Umkreis ihrer Zufluchtsstätte abgegrast. Damit wurden die Wege weiter und noch beschwerlicher, immer wieder setzte neuer Schneefall ein und begrub ihre festgetrampelten Pfade unter einer weißen Decke.
    Agnes fragte sich, wie lange sie diese Mühsal durchhalten würde und vor allem: Woher würden sie etwas zu essen bekommen?
    Nach acht Tagen – oder waren es neun? – beruhigte sich dasWetter, durch den verschleierten Himmel schob sich sogar für Stunden eine fahle Sonne. Andres beschloss, die Umgebung zu erkunden. Er wollte wissen, ob Höfe oder Dörfer in der Nähe waren.
    «Bleib in der Höhle», befahl er. «Bin am Abend wieder zurück.
    Aber er kam nicht.
    Sie lauschte auf jedes Geräusch, sah immer wieder nach draußen, bis in der einbrechenden Dunkelheit nichts mehr zu erkennen war. Mit der Nacht kam die Angst. Bei jedem Knacken, jedem Rascheln schrak sie auf in der Erwartung, dass Wegelagerer über sie herfallen würden, sie glaubte fremde Stimmen zu hören, dann wieder drang Wolfsgeheul an ihr Ohr, immer näher kam es, ein ganzes Rudel musste das sein. Sie kauerte sich dicht ans Feuer, zitterte trotz der wärmenden Glut unter ihren Händen.
    Ihr wurde bewusst, dass dieser Junge, von dem sie nichts wusste als seinen Namen und der sich ihr angeschlossen hatte wie ein treuer Hund seinem Herrn, das Einzige war, das ihr noch blieb. Wenn er nicht mehr wiederkam, wenn ihm etwas zugestoßen war, bedeutete das ihr Ende.
    Dann sah sie den Tod. Er stand plötzlich vor ihr als ein riesiger Schatten, umlauerte sie in stummer Bedrohung, schien es kaum erwarten zu können, sie mit sich zu nehmen. Die Angst nahm ihr die Luft zum Atmen, sie begann zu schluchzen, wollte nicht sterben, nicht in dieser schrecklichen Höhle, nicht in dieser kalten Einsamkeit. Ihr Sohn, ihr David, für ihn musste sie weiterleben, er hatte doch niemanden außer ihr. Wie eine riesige eiserne Faust hielt die Angst sie in den Klauen, bis sie sich selbst nicht mehr fühlte. Die Angst vor dem Tod ist eine größere Qual als der Tod selbst. Wer hatte das gesagt? War es Rudolf gewesen? Matthes? Ihre Mutter? Dann hörte sie Antonias Stimme, sah das liebe, großmütige Gesicht der jungen Prinzessin vor sich, wie sie versuchte, sich Mut zu machen angesichts ihrer überstürzten Fluchtaus der Residenz. Es sei unchristlich, sich der Verzweiflung hinzugeben, hörte sie ihre Worte, wie Gott es füge, so sei es recht.
    Agnes begann zu beten, erst still für sich, dann mit lauter Stimme. Achtete nicht auf den Lichtstrahl über ihr, der das Ende der Nacht verkündete, hörte nicht das Knirschen der Schritte durch den trockenen Schnee. Schrak erst auf, als die Gestalt in die Höhle kroch. Es war Andres. Sein struppiges Haar war zu Eis gefroren, die Wangen gerötet im Schein der Glut. Sie begann wieder zu weinen. Rasch legte der Junge Holz nach, dann zog er sich die steifgefrorene Schaube von den Schultern und nahm sie in die Arme.
    «Lass mich nie wieder allein», stammelte sie.
    Wenig später waren sie eingeschlafen, eng aneinander geklammert wie zwei Schiffbrüchige auf einem Floß.
     
    Die Zeit spielte keine Rolle mehr. Auf einen Morgen folgte ein Tag, auf einen Abend eine Nacht. Frischer Schnee fiel auf den alten, Stürme folgten frostigen Sonnentagen, der Mond nahm zu und wieder ab. Andres plagte sich wie ein Ochse, damit sie es warm hatten und nicht verhungerten. Einmal erschlug er einen Marder, tagelang hatte er ihn belauert, bis er ihn mit seinem Ast erwischte. Er zog ihm das Fell ab und fertigte daraus eine warme Mütze für Agnes. Aus den Sehnen bespannte er seine Fidel neu. Während das Festessen über den Flammen garte, spielte er ihr die schwermütigen Lieder der Zigeuner vor.
    An den meisten anderen Tagen litten sie Hunger. Im Windschatten eines Felsens hatten sie die Schneedecke weggescharrt. Dort gruben sie nach Wurzeln, Würmern und Schnecken, die sie auf der Klinge ihres Dolchs im Feuer brieten – ein klägliches Mahl, über das sich ihr Magen nur noch mehr verkrampfte. Mit Sicherheit wären sie elend verhungert, hätte Andres nicht einmal eine verwilderte Ziege aufgestöbert und ein andermal ein Reh in einer Schlinge gefangen.
    Eines Tages schleppte er zwei mächtige flache Steine an.
    «Mahlsteine», sagte er nur, und Agnes

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