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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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über einen Balken gebunden und aufgespießt. Von hinten, wie Männer Männer schänden. Er starb schnell, Gott war ihm gnädig. So musste er nicht mit ansehen, wie meine alte Ahn, seine Mutter, verblutete, nachdem sie ihr die Brüste abgeschnitten hatten, und wie erst der Wahnsinn über meine Mutter kam und dann der Tod, als sie ihr aus dem geöffneten Bauch das Ungeborene rissen. Wie sie, nachdem die Frauen tot waren, meine beiden Schwestern schändeten und zuletzt den Kleinsten, der nicht aufhörte zu schreien, mit dem Kopf voran gegen die Hauswand schmetterten, wieder und wieder, bis der Schädel platzte.»
    Agnes klammerte sich an ihn, mit tränenüberströmtem Gesicht, hätte ihn am liebsten zum Schweigen gebracht, doch sie wusste: Einmal musste es heraus.
    «Und du selbst?»
    «War versteckt im Misthaufen und konnte nicht schreien, weil Gott mich stumm gemacht hatte.»
     
    Agnes trat hinaus in den Morgen. Etwas hatte sich verändert. Noch immer herrschte winterliche Kälte, und der Wald lag unter einer dichten Schneedecke. Und dennoch – dieser Tag war anders als die unzähligen Tage zuvor. Dann hörte sie es: Die Vögel sangen. Sie weckte Andres.
    «Rasch, komm hinaus. Es wird Frühling.»
    Andres erhob sich verschlafen und ließ sich von ihr zum Eingang ziehen. Er streckte die Nase in den Morgenwind.
    «Du hast Recht.»
    «Hörst du die Vögel? Und das Licht – es ist viel klarer. Die Nächte sind auch schon kürzer.» Sie umarmte ihn, dann tanzte sie durch den Schnee. «Jetzt geht der Winter zu Ende, und wir können bald aufbrechen, du wirst sehen.»
    Andres lachte. Er holte seine Fidel, und sie tanzte zu seiner Musik, bis ihr der Atem wegblieb.
    Einige Tage sollte es noch dauern, bis Tauwetter einsetzte. Sie nutzten die Zwischenzeit, um das Geringe, das der Wald bot, für ihre Wegzehrung zu sammeln, Eichelfladen zu backen und ihr Schuhwerk auszubessern. Dann brachen sie auf, nach Westen, die milde Frühjahrssonne zeigte ihnen den Weg. Indessen hatte sich Agnes’ Aufbruchsfreude rasch ins Gegenteil verkehrt. Sie wusste, es würde ein beschwerlicher Marsch werden, und über kurz oder lang waren sie auf die Mildtätigkeit der Menschen angewiesen, wollten sie nicht verhungern. Doch sie, Agnes, würde sich keinem Dorf, keinem Hof mehr nähern, denn die Menschen fürchtete sie inzwischen mehr als jedes Unwetter.
    «Wir werden es schaffen», hatte Andres ihr Mut zu machen versucht. «Es gibt Städte, hinter deren Mauern und Gräben die Menschen geschützt sind. Und dort geht das Leben weiter.»

32
    Wären sie nicht so erschöpft gewesen, hätten sie vielleicht die Spuren, die die Männer hinterlassen hatten, rechtzeitig wahrgenommen. Doch sie hatten nur Augen für die kleine befestigte Stadt, die da am Fuße eines Berges vor ihnen aufgetaucht war.
    Es war am vierten Tag ihrer Reise. Schon von weitem hatten sie die Reste der mächtigen Burg erblickt, die auf einem Bergvorsprung über dem Albaufstieg thronte, jetzt erkannten sie auch das zweifach ummauerte Städtchen an dessen Flanke. Friedlich lag es in der Vormittagssonne, als sie aus dem dichten Wald auf den Feldweg traten.
    «Vielleicht lässt man uns dort musizieren», sagte Agnes. Sie hatten seit dem Vortag nichts mehr gegessen, und ihr Magen begann zu schmerzen.
    Andres nickte.
    «Weißt du, Andres, wonach mir auch der Sinn steht? Ich möchte einmal wieder an einem Gottesdienst teilnehmen.»
    Der Junge spuckte aus. «In was für einen Gottesdienst denn? Willst du mit Hunden in die katholische Messe gehetzt werden? Oder lieber mit ansehen, wie sie mich mit Stockschlägen in eine lutherische Predigt zwingen? Um dann nichts anderes als das Gebrüll der Pfarrer und Priester, ihre stundenlangen Hetztiraden anhören zu müssen? Nein, das sind keine Zeiten, um in die Kirche zu rennen. Gott findest du, wenn überhaupt, unter freiem Himmel. Zumindest fragt da keiner, welcher Art du getauft bist.»
    Erstaunt sah Agnes ihn an. Nur selten legte Andres seine Gedanken in solcher Ausführlichkeit dar.
    Weder er noch Agnes hatten auf die Geräusche geachtet, die aus der Lichtung zu ihrer Linken drangen. Agnes sah sie zuerst: eine Frau mit offenem, verfilztem Haar und einer frischen Narbe über der Stirn, hinter ihr drei kräftige Burschen. Mit schnellen Sprüngen stellten sie sich ihnen in den Weg.
    «Was ist das für eine Stadt, gute Frau?», fragte Agnes, sah gerade noch die Knüppel, die die Burschen schwangen, dann traf sie ein Schlag gegen die Schläfe, und ihr

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