Die Gauklerin
über den Platz. Für einen flüchtigen Moment glaubte Matthes, hinter dem Kirchturm Mugge verschwinden zu sehen, mit einem Hündchen am Strick und einem dicken Bündel unter dem Arm. Was soll’s, dachte er, warum sollte nicht auch er seinen Anteil bekommen. Er fasste nach der freien Hand des Mädchens. Sie war eiskalt.
Im Hauptchor der Kirche drängten sich die Menschen, es stank nach verbranntem Holz und menschlichen Exkrementen. Vor dem Altar stand der Pfarrer und las mit fester Stimme aus der Bibel:
«Du aber sei nüchtern allenthalben, leide willig, tu das Werk eines Predigers –»
Das Mädchen riss sich los und lief zu einer Frau in zerrissenem Rock. In diesem Augenblick stürmte ein Trupp Soldaten herein, Dragoner, nach der Art ihrer Bewaffnung. Ihr Anführer rief: «Schluss mit diesem Ketzergeschwätz. Ab morgen wird hier die Heilige Messe gefeiert. Und wenn wir euch für die Hostie das Maul mit Zangen aufsperren müssen!»
Die Stimme des Pfarrers wurde lauter: «Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben gehalten.»
Der Schuss krachte ohrenbetäubend. Polternd fiel die Bibel zu Boden, die aufgeschlagenen Seiten glänzten tiefrot. Der kopflose Leib des Pfarrers kippte rücklings auf den Altar.
Matthes starrte mit aufgerissenem Mund auf die Leiche, auf die entsetzten Gesichter um ihn herum, auf das Mädchen in den Armen seiner Mutter. Dann begann er zu brüllen: «Herr im Himmel, wo bist du? Herr im Himmel, wo bist du?» Er drängte sich durch den Tumult, flüchtete hinaus auf den Kirchplatz, keuchte und rang nach Luft, spuckte und würgte.
Als er nicht einmal mehr Galle speien konnte, schleppte er sich durch die Ruinen der Stadt, deren Gassen sich jetzt mit trunkenen Soldaten und Trossbuben füllten. Stolperte über verkohlte Leichen, über misshandelte, verlassene Kinder, die nur noch wimmerten, über die nackten Körper geschändeter Frauen und alter Weiber, über Leichname ohne Arme oder Beine oder mit zerschmetterten Schädeln, Leichname von Bürgern, die ihr Letztes nicht hatten herausgeben wollen.
Vor dem Graben des Burgschlosses hatten die Karren der Marketender und Schankwirte Aufstellung bezogen.
«Der erste Branntwein ist frei», lockte einer von ihnen. Matthes ließ sich den Becher randvoll füllen, kippte ihn hinunter, einen zweiten und dritten gleich hinterher.
«He, Oberschwab, lass den Kerl sein Gesöff selbst trinken und komm.» Einer der Corporale seines Fähnleins, ein junger, lustiger Kerl, dessen Namen Matthes vergessen hatte, schlug ihm auf die Schulter. «Wir haben was Besseres. Echten Wacholder.»
Matthes wankte hinter ihm her zu einer Bresche in der Bastion, wo bereits zwei seiner Kameraden, ein junger Gefreiter und ein Rottmeister, auf dem Boden hockten und munter beim Zechen waren. Der Wacholder brannte in der Kehle, doch sein Atem wurde freier, und eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Innern aus. Irgendwann begann sich die Welt vor seinen Augen zu drehen. Sie sangen und soffen, umarmten sich und fluchten auf den Krieg. Dann schleppte der junge Corporal aus dem Nichts ein Mädchen an, ein zierliches, bildhübsches Ding mit schwarzen Locken, in die bunte Bänder geflochten waren. Ihr Gesicht mit dem trotzigen dunklen Blick war ihm auf seltsame Weise vertraut. Erst beim zweiten Hinsehen wurde Matthes gewahr, dass sie an den Handgelenken gefesselt war.
«Was soll das?» Seine Zunge ging schwer. «Bindet sie los. Sie soll mit uns trinken.»
«Mit uns trinken – das ist gut», lachte der andere. «Habt ihr das gehört?»
Bis auf Matthes brachen alle in schallendes Gelächter aus. Der Junge setzte ihr den Krug an die Lippen, sie trat ihm heftig gegen das Schienbein.
«Misthure!»
«Lass gut sein, Wilhelm, die will eben was anderes.»
«Genau wie wir.» Matthes sah, wie der Rottmeister die Kordel an seiner Hüfte löste und die Hose abstreifte. Seine pralle Rute ragte steil in die Höhe. «Vier gestandene Mannsbilder, die dir zeigen, wo der Bartel den Most holt. Ist es das, was du willst?»
Die junge Frau spuckte ihm verächtlich vor die Füße. «Das Maul voll nehmen vor einer wehrlosen Frau – was seid ihr nur für Helden.»
Matthes rappelte sich auf. «Sie hat Recht. Lasst sie in Ruhe.»
«Und du», sie warf Matthes einen eisigen Blick zu, «bist hier der große Menschenfreund, was?»
Mit einem Mal wusste Matthes, an wen ihn das Mädchen erinnerte. Du bist wohl unschuldig wie eine Klosterfrau, die keinen
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