Die Gauklerin
beobachtete erstaunt, wie er begann, in die halbgefrorene Erde ein Loch zu graben. Den ganzen Nachmittag brauchte er dazu.
«Morgen suchen wir Eicheln.»
Da verstand sie, dass er einen Backofen gebaut hatte. Agnes bezweifelte, dass sie auf diese Weise würden Brot backen können, doch sie fügte sich seinen Anweisungen, mahlte am nächsten Tag die Eicheln zu klumpigem Mehl, bis ihr die Arme taub wurden, während er aus der lächerlich geringen Ausbeute mit geschmolzenem Schnee einen Teig knetete. Doch Stunden später hielt sie einen steinharten, warmen Fladen in den Händen, der annähernd nach Brot schmeckte.
«Wo hast du all das gelernt?», fragte sie.
Er zuckte nur mit den Schultern, wie meist, wenn sie ihn etwas fragte.
Sie waren ein seltsames Paar. Jede Nacht verbrachten sie eng aneinander gedrängt an der Feuerstelle, doch niemals trat er ihr zu nahe. Er achtete und verehrte sie, erriet ihre Wünsche wie ihre Ängste mit einem einzigen Blick, doch wenn es um die täglichen Handreichungen und Entscheidungen ging, gab er unmissverständlich den Ton an.
Agnes hatte sich angewöhnt, jeden Morgen und jeden Abend zu beten. Anfangs hatte sie ihn aufgefordert mit zu beten, doch er hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt. Da begriff sie, dass es niemanden gab, um dessen Wohlergehen er hätte beten können.
Sie selbst dachte anfangs immerfort an ihre Familie. Wie sehr mussten sie sich quälen vor Sorge, wie gern hätte sie ihnen zugerufen: Ich lebe. Ich habe Andres bei mir, er bringt mich zurück, wenn es Frühjahr wird. Dann, eines Abends, als der Schlaf sich näherte, erschien ihr die Mutter. Sie lag auf weißem Linnen, die Haare sorgfältig frisiert, und hob den Kopf. Gib auf dich Acht, meine Kleine. Ich warte auf dich. In jenem Augenblick erwuchs etwas in ihr, das stärker war als alles, was sie bisher gekannt hatte,stärker als Hunger und Frieren, stärker noch als jede Angst: der Wille zu überleben.
Ein andermal wurde sie mitten in der Nacht wach, da sie fror. Das Lager neben ihr war leer. Sie kroch zum Eingang und sah Andres, bei eisiger Kälte und sternenklarer Nacht, vor der Höhle sitzen, den Kopf nach oben gewandt. Wie schwarzer Samt, mit glitzernden Diamanten bestickt, umspannte der Himmel ihre kleine verschneite Welt.
«Ist dir nicht kalt?» Sie hockte sich neben ihn.
Er schüttelte den Kopf. Seine Hände waren ineinander gefaltet. Da legte auch sie den Kopf in den Nacken und überließ sich dem kühlen, funkelnden Zauber dieser Nacht.
«Siehst du das Bild mit den sieben Sternen dort hinten?» Seine Stimme war nur ein Flüstern.
«Ja. Das ist der Große Wagen.»
«Die Sterne da, das ist meine Familie. Meine ganze Familie. Dort oben ist sie für immer bei mir.»
Im Zwielicht der Nacht betrachtete sie sein junges Gesicht. Sie fand darin weder Trauer noch Verzweiflung, vielmehr eine Art Gelassenheit, wie sie sie bei alten Menschen beobachtet hatte, die spürten, wie sich der Tod ihnen näherte.
«Erzähl mir von deiner Familie», bat sie schließlich.
«Da ist zuerst meine Mutter, ganz vorn an der Deichsel, siehst du?» Er beschrieb das Sternbild mit seinem ausgestreckten Arm. «Sie war als Erste tot, denn sie wollte uns schützen. Der Stern rechts davon ist mein Vater, er wollte ihr zu Hilfe kommen. Dann war unsere alte Ahn an der Reihe, und schließlich – dort der kleine Stern – meine jüngste Schwester Klara. Dann meine Geschwister Margrit und Michael.»
«Und der helle Stern, oben am Heck des Wagens? Wer ist das?»
«Der wartet auf mich.» Er lächelte. Dann begann er leise zu summen:
«Bet, Kindchen, bet,
Morgen kommt der Schwed.
Morgen kommt der Oxenstern,
Der wird’s Kindchen beten lehrn.
Bet, Kindchen, bet.»
Agnes lehnte sich an seine Schulter. Die Schweden haben dir deine ganze Familie genommen, dachte sie. Wie sollte sie ihm nur Trost spenden? Sie schluckte. Gab es dafür überhaupt Worte oder Gesten?
«Komm, lass uns wieder hinein, das Feuer anfachen. Du musst halb erfroren sein.»
Als sie neben dem aufflackernden Feuer lagen, begann er zu sprechen. Mit tonloser Stimme, als erzähle er von Dingen, die ihn nichts angingen.
«Wenn nichts mehr zu holen ist, fängt das Massakrieren an. Mein Vater war Dorfschultes, wir hatten den Schweden schon alles gegeben, doch es war nicht genug. Da haben sie meine Mutter hergenommen, sieben Mann hoch, haben ihr die Kleider vom hochschwangeren Leib gerissen und sie geschändet. Als mein Vater dazwischenfuhr, haben sie ihn bäuchlings
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