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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Heimweh.
    Ansonsten schien das Küchengesinde ein recht eingeschworener Haufen zu sein, dessen Rangordnung sie anfangs nicht durchschaute, da sie vom üblichen Tratsch und Geschwätz ausgeschlossen blieb. Doch in dem Maße, in dem ihr die Arbeit leichter und rascher von der Hand ging, die täglich gleichen Abläufe ihr zur Gewohnheit wurden, fand sie immer häufiger Gelegenheit für erhellende Beobachtungen und Einblicke in die neue Umgebung. Gezänk und Eifersüchteleien waren hier an der Tagesordnung, man suchte seine Vorteile an Land zu ziehen, kämpfte hartnäckig um seine angestammten Privilegien. Am deutlichsten kam dies jedes Mal zum Ausdruck, wenn aus den herrschaftlichen Kemenaten und Speisesälen die Essensreste zurückgetragen wurden. Der Speisenmeister nahm von den Platten, was für den weiteren Speiseplan noch zu verwenden war, dann waren die Köche an der Reihe, den Rest überließ man der Obermagd, vor der sich das Gesinde drängte wie eine Meute hungriger Wölfe. Es sollte noch Wochen dauern, bis auch Agnes ihre Bissen abbekam.
    Dass der Hofküchenmeister, ganz wie Else es prophezeit hatte, ihr begehrliche Blicke zuwarf, hatte sie schnell bemerkt, und sie nutzte das weidlich aus, indem sie diese Blicke mal mit der Andeutung eines Lächelns erwiderte, mal mit kalter Schulter übersah. Dieses Spiel, das manche Mannsbilder bis zur Verzweiflung treiben konnte, beherrschte sie seit ihrer Mädchenzeit zurGenüge. Sie hatte nie begriffen, was die Burschen an ihr fanden: Ihr Gesicht war zu schmal, ihre Nase eine Spur zu lang, und ihre widerborstigen Locken ließen sich nie so kämmen, wie sie es wollte. Dennoch zog sie die Blicke der Männer auf sich wie ein Magnet das Eisengespän.
    Alsbald stellte sie fest, dass Luise eine Schwatzbase war, und nahm auch dieses Feld in Angriff. Bei passender Gelegenheit ließ sie sie wissen, ihr Gatte sei der persönliche Quartiermeister eines Obristen, der im Norden für die Sache der Protestanten kämpfe. Im Übrigen trage ihr Mann den Scherznamen Gaukler, weil er einer berühmten Familie englischer Schauspieler entstamme, die schon unter Herzog Friedrich am Stuttgarter Hof rauschende Erfolge gefeiert hätten. Sie wunderte sich selbst, wie leicht ihr das Lügen fiel.
    Der einzige Lichtblick der tristen Arbeitstage war die warme Mahlzeit am Nachmittag, wenn die herzogliche Familie mit ihrem Hofstaat versorgt war: Dann kam ein kräftiger Eintopf mit Graupen und Gemüse auf den Tisch, der jedes Mal ein wenig Speck oder gar Stücke von Schweinefleisch oder Geflügel enthielt. Mit dem Sommer, der früh Einzug hielt, hatte Agnes tatsächlich ihre Magerkeit verloren. Sie genoss ihre freien Sonntage mit David, marschierte mit ihm nach dem Kirchgang hinauf in die warmen Weinberge oder spielte mit ihm Murmeln im Hof. Von den Nachbarn und den Leuten auf der Gasse wurde sie freundlich gegrüßt, die Wallnerin nahm wieder ihre Gewohnheit auf, bei ihr vorbeizuschauen, Else und Melchert waren zu ihrer Familie geworden.
    Ihre eigene Familie hingegen war in unerreichbare Ferne gerückt. Als schließlich im September der Tag kam, an dem sich ihre verfluchte Hochzeit zum zweiten Mal jährte, öffnete sie am Morgen ihre Truhe, holte Kaspars Abschiedsschreiben hervor und warf es ins Herdfeuer.
    Am selben Abend überbrachte ein Sendbote ein versiegeltesSchreiben für Agnes. Es war der erste Brief, den sie je geschickt bekommen hatte. Ihr Herz schlug heftiger, als sie die Rolle entgegennahm und dem Boten einen Groschen in die ausgestreckte Hand legte.
    «Öffne du ihn», bat sie Else. «Wenn er von Kaspar ist, kannst du ihn gleich ins Feuer werfen.»
    «Na, na! Nicht gleich so hitzig. Außerdem kann ich doch gar nicht lesen, Melchert auch nicht. Stell dich nicht so an.»
    Agnes zögerte einen Moment, dann ging sie hinüber zum Fenster und entrollte das Papier. Als sie Jakobs aufrechte, sorgfältig gesetzte Buchstaben sah, schossen ihr die Tränen in die Augen. Zum ersten Mal, nach zweieinhalb langen Jahren, hielt sie eine Nachricht aus ihrer Heimat in den Händen.
    Ravensburg, 1.   August
    anno Domini 1623
     
    Geliebte Schwester!
    Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht wenigstens einmal an dich gedacht hätte. In all meine Gebete schließe ich dich mit ein. Viel zu spät habe ich den Mut gefunden, mich über Vaters Verbot hinwegzusetzen und dir zu schreiben. Weiß ich doch nicht einmal, ob du noch in Stuttgart lebst. Zweimal hast du uns bereits geschrieben, in deiner letzten Post endlich

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