Die Gauklerin
deine Wohnstatt angegeben – doch ist das unendlich lange her. Du hattest den Brief letztes Weihnachten verfasst, und stell dir vor, erst im März kam er in Ravensburg an. Deine Nachrichten haben mich tief betrübt, aber zugleich erfüllte mich eine solche Freude, dass du nun einen Sohn hast. Ich hoffe inständig, dass ihr beide gesund und wohlauf seid.
Mutter lag vergangenen Winter zweimal darnieder. Es vergingen Monate, bis sie wieder richtig bei Kräften war. Neuerdings führt sie einen Teil des Mädchenunterrichts, sie gibt Lesen, Schreiben und Rechnen, und seither ist sie nahezu wieder wie früher. Dies
ist vielleicht ist auch der Grund, warum ich dir jetzt erst schreibe: Bis vor kurzem durften wir deinen Namen vor den Eltern nicht einmal erwähnen, so verstockt waren sie, und Vater hatte mir tatsächlich streng verboten, dir zu schreiben. Ich hätte mich darüber hinwegsetzen können, aber was hätte ich dir auch schon mitteilen können? Viel Erbauliches wäre dabei nicht herausgekommen. Dafür hatte es mich mehr und mehr gedrängt, während meiner Schulferien einmal heimlich zu dir nach Stuttgart zu kommen! Aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich zu feige bin, in solch unsicheren Zeiten alleine zu reisen.
Doch nun stell dir vor: Vor zwei Tagen, endlich, habe ich mit unserer Mutter ein langes Gespräch geführt über dich, und ich weiß jetzt gewiss, dass die Ungeheuerlichkeit deiner Flucht langsam verblasst. Stattdessen nagt in Mutter die Sorge, wie du allein zurechtkommen mögest. Ich bitte dich also von ganzem Herzen: Kehre mit deinem Kind zu uns zurück!
Glaube mir, Mutter hat dir deine Flucht längst verziehen. Dass sie nicht den ersten Schritt zu eurer Versöhnung machen kann, schmerzt sie selbst am allermeisten. Und was Vater betrifft – du weißt ja selbst, dass er seine Strenge dir gegenüber auch früher schon nie lange aufrechtzuhalten vermochte. Ich bin mir sicher: Du würdest unseren Eltern kein schöneres Geschenk machen, als wenn du so bald als möglich zurückkehrtest! Matthes und ich würden, sofern du dich dazu entscheidest, sofort nach Stuttgart reisen, um dich heimzuholen.
Im Augenblick sind gerade Ernteferien, und ich gehe an den meisten Tagen unserem Stadtarzt zur Hand. Vom Doctor Majolis habe ich übrigens auch das Geld für den Postkurier. Mein Wunschtraum ist noch immer, an einer medizinischen Fakultät zu studieren – in Straßburg oder Basel, wo der große Paracelsus gelehrt hat, oder in Tübingen, ganz in deiner Nähe. Am liebsten wäre mir die Kurfürstliche Hochschule in Heidelberg. Doch es steht ja schlimm um die Kurpfalz, seitdem die Spanier und Bayern dort eingefallen
sind. Der Lehrbetrieb ist ausgesetzt, man hat die weltberühmte Bibliotheca Palatina nach Rom verschleppt. Und das ist sicherlich noch das geringste Übel angesichts der Not der Menschen dort. Was für ein grausamer, was für ein unnützer Krieg! Jetzt, wo der böhmische Aufruhr im Blut erstickt, Friedrich von der Pfalz und der brave Markgraf von Baden aus ihren Ländern vertrieben sind, könnte das Morden doch ein Ende haben. Aber nein, die Kaiserlich-Bayerischen müssen nun auch noch den Norden unterjochen. Nun ja, dich beschäftigen gewiss ganz andere Sorgen.
Matthes scheint seine Berufung gefunden zu haben, seitdem er als Lehrbub bei Gessler angefangen hat, dem Büchsenmacher, und er setzt alles daran, in zwei Jahren seine Gesellenprüfung zu machen. Er merkt nicht einmal, dass ihn bald alle Jungfern in der Stadt anhimmeln. So ist der Hausfrieden zwischen Vater und ihm wieder hergestellt. Aber der Krieg spukt noch immer in seinem Kopf – er hat inzwischen eine ganze Bibliothek von Flugschriften gesammelt, und wir geraten uns oft in die Haare über diese Dinge. Immerzu schwatzt er von der gottgegebenen Ordnung im Kaiserreich – ich glaube fast, der alte Habsburger ist ihm selbst so etwas wie ein Gott. Außerdem macht er mir liebend gern meinen Wunschtraum madig. Auf der Universität lerne man doch nichts als hohles Silbenstechen und Disputieren, ich solle mir lieber die Wundarznei von Doctor Majolis beibringen lassen.
Ach Agnes, meine liebe Schwester – ich möchte Stunde um Stunde weiterschreiben, nur um die Verbindung zu dir nicht abreißen zu lassen. Doch die Finger schmerzen schon, und so komme ich zum Schluss. Gib doch bitte ganz rasch Antwort, damit wir dich holen kommen. Ich wäre der glücklichste Bruder der Welt!
Gott schütze dich, dein Jakob.
Agnes starrte Else an, als könne
Weitere Kostenlose Bücher