Die Gauklerin
stand vor ihr. Agnes starrte sie an. Sie sah um Jahrzehnte gealtert aus.
«Mutter», murmelte sie, und im selben Augenblick schossen ihr die Tränen in die Augen.
Marthe-Marie blieb stumm. In ihrem Blick lag weder Überraschung noch Freude. Sie trat zur Seite und ließ ihre Tochter eintreten.
Beklommen stieg Agnes die Treppe hinauf, gefolgt von ihrer Mutter wie von einem düsteren Schatten. Sie hatte dieses Haus ganz anders in Erinnerung, heller, freundlicher, angefüllt mit bunten Kleinigkeiten, mit blühenden Zweigen, ausgefallenen Steinen oder Hölzern – lauter Dingen, die sie und ihre Brüder früher ständig angeschleppt hatten. Das alles war verschwunden, und dumpfe Trostlosigkeit schwebte über jedem Winkel.
Agnes legte ihren Reisesack auf die Bank in der Stube und setzte sich daneben, während ihre Mutter mitten im Raum stehen blieb.
«Wie lange wirst du bleiben?» Marthe-Maries Stimme klang brüchig, grau wie ihr hochgestecktes Haar.
«Zwei Tage und zwei Nächte.»
Agnes wollte ihr sagen, wie unendlich Leid es ihr tat, dass sie ihren Eltern so viel Sorge bereitet hatte, wie heftig es sie jetzt schmerzte, ihren Vater nie wieder sehen zu dürfen, auch dass sie nicht anders handeln zu können geglaubt hatte, als sie damals der Stimme ihres Herzens gefolgt war. Vor allem aber, wie sehr sie sich nach ihrer Mutter, nach ihrem Vater und nach ihrem Elternhaus gesehnt hatte. Doch die Worte wollten nicht heraus.
Marthe-Marie ließ sich auf einen Stuhl sinken. «Dann wärest du besser gar nicht gekommen.»
«Bitte, Mutter!» Agnes sprang auf, kniete vor ihr nieder und umklammerte ihre Hände. «Ich möchte dich mitnehmen. Du musst mit mir nach Stuttgart kommen. Mein Leben hat sich von Grund auf geändert, ich will für dich sorgen, jetzt wo Vater tot ist. Du sollst bei mir und meinem Sohn leben, bei deinem Enkelkind.» Nun sprudelte es nur so aus ihr heraus. «Ich bin schonlange nicht mehr Küchenmagd, ich bin Kammerfräulein bei der Prinzessin, es mangelt mir an nichts, und mein Lohn reicht allemal für uns drei. Du könntest ein hübsches Zimmer anmieten, gleich neben dem Schloss, es ist bereits alles in die Wege geleitet. Bitte, Mutter, komm mit mir. Ich will alles wieder gutmachen.» Sie legte den Kopf in Marthe-Maries Schoß. «Ich will alles wieder gutmachen», wiederholte sie.
Marthe-Marie antwortete nicht. Endlich spürte Agnes, wie sich eine Hand auf ihr Haar legte. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Mutter: «Meine Kleine.»
Lange Zeit verharrten sie so. Irgendwann klappte eine Tür.
«Agnes!»
Jakob stürzte herein, umarmte seine Schwester und barg sein Gesicht an ihrem Hals, wie er es als kleiner Junge immer getan hatte, wenn sie ihn trösten musste.
«Dann hast du meine Post also bekommen», flüsterte er.
Marthe-Marie erhob sich. Sie hatte geweint.
«Ich bin müde, geh mich ein wenig ausruhen. Jakob soll dir zu essen geben.»
Dann verließ sie die Stube. Jakob sah ihr nach.
«Habt ihr euch versöhnt?»
«Ich weiß es nicht.»
Agnes betrachtete liebevoll ihren kleinen Bruder. Er war zu einem jungen Mann geworden, dabei schmal, nicht allzu groß. Das einst strohblonde Haar wirkte dunkler, seine Hände sahen kräftig aus. Doch in den hellblauen Augen stand noch immer der Ausdruck kindlichen Erstaunens.
«Wann kommt Matthes nach Hause?»
In Jakobs Augen blitzte plötzlich der Zorn. «Der hat sich davongemacht. Gleich nach Vaters Beerdigung. Hat sich anwerben lassen für das neue Heer des Wallensteiners.»
«Mein Gott!», entfuhr es Agnes. Wie viel Entsetzliches ihre Mutter durchgemacht haben musste – erst ihre Flucht, dann VatersTod und jetzt Matthes. Dabei hatte sich Marthe-Marie als einzigen und größten Herzenswunsch immer einen behaglichen Lebensabend im Kreis ihrer Familie ausgemalt.
«Führst du mich an Vaters Grab?», fragte sie.
Jakob nickte.
Auf dem Weg zu dem kleinen Friedhof vor der Stadt erfuhr sie, dass er kurz nach Vaters Tod bei Doctor Majolis eine Lehre als Wundarzt begonnen hatte. Er lerne jeden Tag Neues, über Anatomie, chirurgische Eingriffe und die Zubereitung von Arzneien. Der alte Stadtarzt sei ihm fast schon ein väterlicher Freund geworden, und so trauere er dem entgangenen Studium der Medizin nicht weiter nach. Sorgen mache er sich nur um die Gesundheit des Doctors, denn der leide immer häufiger an Chiagra in den Händen.
Die Erde auf ihres Vaters Grab glänzte so frisch und schwarz, als habe man ihn gestern erst bestattet. Agnes beugte
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