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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Mal, mit welch hochfahrenden Dingen sich dieses Mädchen beschäftigte. Gegenwärtig bestand Prinzessin Antonia darauf, dass sie sich abwechselnd aus einem Buch vorlasen, von dem Agnes zuvor noch nie gehört hatte: Das in Kalbsleder gebundene Werk trug den Titel «Christianopolis», was wohl so viel wie «Stadt der Christen» hieß, und stammte aus der Feder eines gewissen Johann Valentin Andreä, Stadtpfarrer und Dekan in Calw. Die Prinzessin kannte ihn persönlich und verehrte ihn in schwärmerischer Hingabe. Fiel es Agnes anfangs schwer, den Sinn der gelehrten Sätze zu erfassen, so war sie, je weiter sie vorankamen, umso gefesselter von den Gedankengängen dieses Mannes. Er hatte in seinem Buch einen Traum ausgesponnen, den Traum einer auf christliches Leben ausgerichteten Stadt, in der wahrhaft unerhörte Dinge eine Selbstverständlichkeit waren – so etwa, dass den Mädchen die gleiche Bildung zukam wie den Knaben. Das gefiel der Prinzessin ganz besonders, denn sie hatte schon oft darüber geklagt, dass ihre Brüder, obgleich allesamt jünger, von einer Hofmeisterin sowie zwei Präzeptoren in Latein, Deutsch und Rechnen unterrichtet wurden, sie selbst dagegen bei diesen Lektionen allenfalls geduldet wurde.
    Agnes nahm Antonias Kleidungsstücke von Stuhl und Frisiertisch und legte sie in den Korb, den sie später zu den Waschfrauen bringen wollte. Noch nie war ihr solch ein Kind begegnet. Aufgeweckt und neugierig, wenn es darum ging, etwas zu lernen oder zu erfahren, dann wieder beinahe schüchtern. Sie wusste inzwischen, dass Prinzessin Antonia zwölf Jahre zählte, auch wenn sie jünger aussah, doch was hinter ihrer breiten Stirn an Wissenund Kenntnissen steckte, übertraf die Gelehrtheit der meisten Erwachsenen.
    In diesem Augenblick kam das Mädchen hereingestürmt.
    «Begleitest du mich in den Garten und hältst mir den schweren Schirm?» Antonia setzte sich ihre dunkelblaue Samtkappe auf das streng zurückgekämmte, aschblonde Haar. «Ich muss ins Freie. Seit Tagen schon sitze ich nur im Haus herum. David soll mitkommen. Dann zeige ich euch das Modell von Jerusalem im Gartenturm – es wird dem Kleinen gefallen.»
    «Gern.» Es war nicht das erste Mal, dass Agnes die Prinzessin bei ihren Spaziergängen begleitete, und so hatte sie nach und nach die entlegensten Winkel des Lustgartens kennen gelernt – das Falken- und das Reiherhaus, die Pferdeplätze und Irrgärten, die Orangerie und das Jägerhaus mit seinen Hunderten von Jagdhunden im Gehege. Antonia, die gerne ihr Wissen ausbreitete, hatte ihr erzählt, dass der Garten auf den sumpfigen Wiesen des Nesenbachs, den einstigen Weiden eines uralten Gestüts, errichtet worden war und dass ihr Großvater im Alten Lusthaus ein alchemistisches Labor unterhalten hatte. An den wenigen trockenen Tagen hatten sie zusammen Fangball auf dem Ballonenplatz gespielt und Bärenzwinger und Hirschgarten besichtigt, die im aufgeschütteten Teil des Schlossgrabens angelegt waren.
    David hüpfte vor Aufregung auf der Stelle, als die Prinzessin ihn bei der Hand nahm und ihm zudem versprach, auf dem Rückweg in der Hofbäckerei nach Zuckerkringeln zu schauen. Im Türrahmen stießen sie fast mit einem Lakaien zusammen. Hinter seinem Rücken erkannte Agnes zu ihrer großen Überraschung Else. Sie war aschfahl im Gesicht.
    «Ihre Durchlaucht verzeihen», stotterte der Mann sichtlich verlegen. «Ich konnte diese Frau nicht davon abbringen, hier einzudringen. Sie behauptet partout, sie müsse dem Kammerfräulein Ihrer Durchlaucht eine Botschaft überbringen.»
    «Schon recht, Rudolf. Lasst sie vortreten.»
    David warf sich der alten Frau in die Arme, doch Else drückte ihn nur kurz und mit abwesender Miene an sich. Vor Antonia machte sie einen tiefen Knicks, dann überreichte sie Agnes mit zitternder Hand einen Brief.
    «Den hat ein Sendbote für dich gebracht. Ich hab ihn mir vorlesen lassen, da ich nicht wusste, wie wichtig er ist.» Ihre Stimme war rau. «Er ist von   –» Sie verstummte.
    Agnes entrollte den Brief. Er stammte von Jakob. Bereits im zweiten Satz las sie:
«Du musst nach Hause zurückkehren. Nach einem schweren Anfall von Fieber ist unser Vater gestern an der ungarischen Krankheit gestorben.»
     
    So anstrengend die Reise war, Agnes dankte Gott, dass der Süden Deutschlands von Mordbrennern und Marodeuren bisher verschont geblieben war. Gerade von den Mansfeldischen Truppen hörte man da immer wieder grauenvolle Dinge. Sie hätten Erlaubnis zu stehlen, was sie

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